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Das deutsche Gesundheitssystem

Das deutsche Gesundheitssystem

Freie Arztwahl, universeller Krankenversicherungsschutz, ein verhältnismäßig geringer Eigenbeitrag zu einer Fülle gesundheitlicher Leistungen – das deutsche Gesundheitssystem gilt als eines der besten der Welt. Gleichzeitig gibt es Kritik: zu zersplittert und komplex, zu viel Nebeneinander statt Miteinander, zu viel Reparatur statt Prävention. Wie ist das deutsche Gesundheitssystem aufgebaut und was steckt dahinter? Ein Überblick.

Wie ist das Gesundheitssystem in Deutschland aufgebaut? Akteure im Gesundheitssystem

Das deutsche Gesundheitswesen funktioniert nach dem sogenannten Selbstverwaltungsprinzip. Das bedeutet: Der Staat gibt nur die gesetzlichen Rahmenbedingungen vor. Die konkrete Ausgestaltung und operative Steuerung regeln die beteiligten Akteure selbst – also die Krankenkassen und Leistungserbringer (Ärzt:innen, Pflege, Krankenhäuser, Zahnärzt:innen, Psychotherapeut:innen und Versorgung mit Arznei- und Heilmitteln).

Die Akteure des deutschen Gesundheitssystems und ihre Aufgaben – ein Überblick

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Knapp gefasst lassen sich also drei Ebenen unterscheiden: Staatliche Institutionen (Bund, Länder, Kommunen) setzen den Rahmen und überwachen die Umsetzung. Die Selbstverwaltung gestaltet die konkrete Versorgung aus. Einzelakteure (Krankenkassen, Ärzt:innen und alle weiteren Gesundheitsberufe, Krankenhäuser, Apotheken …) leisten die Versorgung und vertreten ihre Interessen wiederum über ihre Verbände.

Staatliche Institutionen

Staatliche Akteure setzen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene den regulatorischen Rahmen und überwachen die Umsetzung. Federführend ist das Gesundheitsministerium. Ihm unterstehen weitere Institutionen:

  • das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
  • das Paul-Ehrlich- Institut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel (PEI) • das Robert-Koch-Institut (RKI)*
  • die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

 

Zur Seite stehen dem Bundesgesundheitsminister außerdem der oder die

  • Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege
  • Beauftragte der Bundesregierung für Drogenfragen
  • Beauftragte für die Belange von Patientinnen und Patienten.

Exkurs: Bund – Land – Kommune und ihre Rollen in der Gesundheitspolitik

Bund: Die Bundesregierung arbeitet über das Bundesgesundheitsministerium die Gesetze aus. Der Bundestag stimmt darüber ab.

Land: Die Länder wirken über den Bundesrat an der Gesetzgebung mit und müssen sie dann auf Landesebene umsetzen. Außerdem sind sie für die Planung und Finanzierung von Krankenhäusern zuständig. Und sie überwachen den kommunalen Öffentlichen Gesundheitsdienst, die regionalen Krankenkassen sowie die Landeskammern der (Zahn-)Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen und Apotheken. Alle Landesgesundheitsminister:innen tagen in der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK).

Kommune: Sie sind verantwortlich für die Versorgung vor Ort, also auch Vorsorge oder psychosoziale Beratung im Krisenfall über einen öffentlichen Gesundheitsdienst (Gesundheitsämter).

Die Selbstverwaltung

Welche medizinischen Leistungen - also Therapien, Arzneien und Heilmittel - die Krankenkassen genau ihren Versicherten bezahlen, entscheidet das oberste Gremium der Selbstverwaltung, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). In ihm sind vier große Selbstverwaltungsorganisationen zusammengeschlossen:

  • Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV),
  • Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV),
  • Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und
  • Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband)

Sie beraten und entscheiden, welche Leistungen das deutsche Gesundheitssystem erbringen soll. Dabei achten sie auf einen allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse, auf Nutzen, Wirtschaftlichkeit und medizinische Notwendigkeit von Leistungen. Außerdem übernimmt der G-BA Aufgaben des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung in der ambulanten und stationären Versorgung.

Ebenfalls im G-BA vertreten sind Repräsentant:innen von Patientenorganisationen. Sie haben allerdings nicht das Recht, mitzuentscheiden, sondern nur mitzuberaten und Anträge zu stellen. Unterstützt wird der G-BA vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG) – es wird vom G-BA damit beauftragt, anhand eingereichter Dossiers von Pharmaunternehmen den Nutzen von Arzneimitteln und Behandlungsmethoden zu bewerten. Ebenfalls unterstützende Funktion hat das Institut für Qualität und Transparenz (IQTIG), das für die Qualitätssicherung im Gesundheitswesen zuständig ist.

Die einzelnen Akteure

Die konkrete Versorgung leisten die Krankenkassen, die Ärzteschaft, Psychotherapeut:innen, weitere Gesundheitsberufe, Krankenhäuser und Apotheken. Die Leistungserbringer haben jeweils ihre Dachorganisationen: Die niedergelassenen Ärzt:innen für gesetzlich Versicherte sind beispielsweise in Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) organisiert. Ihre Hauptaufgabe besteht unter anderem darin, dafür zu sorgen, dass es genug wohnortnahe Arztpraxen gibt; ihre Landesverbände verhandeln mit den gesetzlichen Krankenkassen, wie viel Geld jeweils für Arztpraxen pro Abrechnungsjahr zur Verfügung steht. Die Berufsgruppen sind außerdem auch in Verbänden zusammengeschlossen, die ihre Interessen jeweils vertreten – etwa die Ärzt:innen im „Marburger Bund“.

Versorgung in Deutschland

Gesundheitspolitik und Gesetze

In Deutschland gibt der Staat nur die Rahmenbedingungen und Aufgaben für die medizinische Versorgung vor. Das geschieht in Form von Gesetzen und Verordnungen. Die konkrete Ausgestaltung liegt in den Händen der Selbstverwaltung (s. o.).

Was die Aufgabe für den Staat nicht leichter macht. So listet das Bundesgesundheitsministerium in seinem Zuständigkeitsbereich derzeit knapp 200 Gesetze und Verordnungen auf – die laufenden Verfahren nicht mitgezählt. Durch historisch gewachsene Strukturen und eine Fülle an Akteuren und Interessen hat das deutsche Gesundheitssystem einen enormen Regelungsbedarf .

Ländervergleich von Gesundheitssystemen

Es gibt am deutschen Gesundheitssystem auch Kritik, etwa dass es veraltet, kostenintensiv oder langsam sei

Grundsätzlich kann man drei Typen von Systemen der Gesundheitsversorgung unterscheiden: staatliche Gesundheitssysteme, Sozialversicherungssysteme und private Versicherungssysteme.

Staatliche Gesundheitssysteme ...

... finanzieren sich über Steuern: Der Staat organisiert die Versorgung mit Krankenhäusern und Gesundheitszentren und bezahlt Operationen, Therapien, Arzneimittel aus dem Staatshaushalt. Beispiele dafür sind etwa Schweden, Norwegen, Finnland, Großbritannien, Irland, Griechenland, Spanien, Italien, Portugal oder auch das dänische Gesundheitssystem.

Sozialversicherungssysteme ...

... werden von Krankenkassen und anderen Sozialversicherungsträgern (Arbeitsagentur, Rentenversicherung) finanziert, die sich wiederum aus den Versichertenbeiträgen speisen. Anders als in den staatlich organisierten Gesundheitssystemen wird die Versorgung von privaten und öffentlichen Anbietern organisiert („gemischtwirtschaftliche Trägerstrukturen“). Das ist das sogenannte Selbstverwaltungsprinzip. Dieses System haben neben Deutschland auch Frankreich, Österreich, die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Japan.

Private Versicherungssysteme ...

... oder marktwirtschaftlich orientierte Systeme überlassen die Organisation und Steuerung des Gesundheitssektors privaten Akteuren. Gesundheitsleistungen werden direkt privat bezahlt oder sind über eine Privatversicherung abgedeckt. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt es nicht. Der Markt regelt das Gesundheitssystem. Das Gesundheitssystem der USA funktioniert auf diese Weise.

Ein Tag im deutschen Gesundheitssystem

Ein Tag im deutschen Gesundheitssystem

Wie wird das Gesundheitssystem finanziert?

Das deutsche Gesundheitssystem ist ein Solidarsystem: Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen mit ihren Beiträgen an die Gesetzliche Krankenversicherung die Gesundheitskosten für alle gesetzlich Versicherten in Deutschland.

Die Beiträge (14,6 Prozent des Einkommens, zur Hälfte vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber bezahlt) fließen in den „Gesundheitsfonds“. Auch die Bundesagentur für Arbeit und die Deutsche Rentenversicherung zahlen ein (für Erwerbslose und Rentner:innen). Außerdem fließt der „Zusatzbeitrag“ mit ein, den die Kassen individuell erheben können und der ebenfalls hälftig von Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragen wird (liegt zurzeit im Schnitt bei 1,3 Prozent des Einkommens). Hinzu kommt ein milliardenschwerer Bundeszuschuss aus Steuermitteln.

Aus dem Topf „Gesundheitsfonds“ werden die Gelder dann an die gesetzlichen Einzelkassen – derzeit 103 – zur Finanzierung der Leistungen verteilt. Damit Kassen beispielsweise mit vielen älteren, kranken oder einkommensschwachen Mitgliedern nicht schlechter gestellt sind als Kassen mit jungen, gesunden, gut verdienenden Mitgliedern, gibt es den so genannten Risikostrukturausgleich (RSA): Er sorgt für einen finanziellen Ausgleich zwischen den Kassen aufgrund ihrer Versichertenstruktur. Seit Januar 2021 berücksichtigt er sogar detailliert alle Krankheitsbilder sowie regionale Ausgabenunterschiede (Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz).

Die Privaten Krankenversicherungen sind nicht am Gesundheitsfonds beteiligt. Ihre Beiträge errechnen sich nicht aufgrund des Einkommens, sondern aufgrund von Faktoren wie Alter, Gesundheitszustand und Leistungswünsche. Statt eines Solidarprinzips gilt hier ein Äquivalenzprinzip – der Beitrag entspricht dem persönlichen Risiko.

Was kostet unser Gesundheitssystem?

Was lassen wir uns Gesundheit kosten?

2020 wurden in Deutschland 425,1 Milliarden Euro für Gesundheit ausgegeben. Das sind die Ausgaben der Gesetzlichen und der Privaten Krankenversicherungen, weiterer Sozialversicherungsträger, aber auch von öffentlichen und privaten Haushalten zusammengerechnet.

Gesundheitsausgaben machen in Deutschland 12,6 Prozent des BIP aus. Sie werden oft als „Kosten“ benannt – sind aber genauso gut gesellschaftliche Investitionen: Gesunderhaltung und Gesundwerdung ermöglichen mehr Teilhabe, mehr Erwerbstätigkeit und damit Produktivität.

Geschichte des deutschen Gesundheitssystems: Gesundheitsreformen

Eine Besonderheit des Deutschen Gesundheitssystems ist die Trennung von Privater und Gesetzlicher Krankenversicherung. Deutschland ist das einzige Land in Europa mit diesem Nebeneinander in der Vollversicherung (also nicht nur als Zusatzversicherung. Das stammt noch aus der Zeit der Entstehung der Gesetzlichen Krankenversicherung unter dem deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck. Er hatte 1883 die erste staatliche Sozialversicherung weltweit gegründet, im Wesentlichen, um die wachsende Gruppe der Industriearbeiter zu schützen, die unter schwierigsten Bedingungen arbeiteten und lebten. Mit einer Renten-, einer Unfall- und einer Krankenversicherung sollten ihre Daseinsrisiken gemindert werden. Die Entscheidung, diese Pflichtversicherung nur auf einen Teil der Bevölkerung anzuwenden, führte zum Nebeneinander von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung, das bis heute besteht. Nur, dass inzwischen etwa 89 Prozent der Bevölkerung gesetzlich pflichtversichert sind und knapp 11 Prozent privat.

 

Mit zahlreichen Reformen wurde das deutsche Gesundheitssystem immer wieder seiner Zeit angepasst. In den Nachkriegsjahren bis zu Beginn der 1970er Jahre wurde die Gesundheitsversorgung auf- und ausgebaut. Solange die Wirtschaft florierte, hatten auch die Krankenkassen gute Einnahmen (Versicherungsbeiträge sind einkommensabhängig), es herrschte kein Kostendruck. Mit der 1973/74 einsetzenden Weltwirtschaftskrise und steigenden Arbeitslosenzahlen wurde die Kostendämpfung zum übergreifenden Ziel von Gesundheitsreformen. Einen Paradigmenwechsel brachte dabei das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992, das die Richtung weiterer Reformen vorgab: Das System soll über wettbewerbliche Elemente stärker auf Effizienz und Ergebnisqualität getrimmt werden. Zu solchen wettbewerbsorientierten Strukturreformen zählen etwa:

 

Die Einführung der freien Kassenwahl für Versicherte im Jahr 1996: Dadurch kommen die Krankenkassen in den Wettbewerb um Versicherte – hebt eine Kasse ihren Beitragssatz an, droht sie, Mitglieder zu verlieren.

Die Einführung von Fallpauschalen („DRG“ – „Diagnosis Related Groups“) an Krankenhäusern 2003: Statt der Liegedauer wird der „Fall“ bezahlt. Dazu wurden Diagnosen in Fallgruppen eingeteilt und beziffert. So sollen Krankenhäuser in Wettbewerb gesetzt werden und das Finanzrisiko wandert von den Kassen zu den Leistungserbringern.

Die Einführung von Rabattverträgen zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern 2007: Der Arzneimittelhersteller gewährt einen Rabatt auf sein Medikament und die Versicherten der jeweiligen Krankenkasse erhalten in Apotheken dann genau dieses Medikament. Patient:innen verschiedener Kassen erhalten zwar den gleichen Wirkstoff, aber jeweils das Medikament des Unternehmens, mit dem ihre Kasse den Vertrag geschlossen hat.

Die Einführung der Nutzenbewertung für neue Arzneimittel im Jahr 2010 (Arzneimittelneuordnungsgesetz, AMNOG9: Hersteller neuer Medikamente müssen nachweisen, welchen Zusatznutzen ihr Präparat hat. Dafür bewertet der G-BA das neue Medikament im Vergleich zu anderen bestehenden Arzneimitteln dieser Erkrankung. Von der Bewertung hängt später die Preisgestaltung ab.

Die Zukunft des Gesundheitssystems: Diese Herausforderungen kommen auf uns zu

Das deutsche Gesundheitssystem steht vor der großen Aufgabe, sich für die Zukunft aufzustellen und an gar nicht mehr so neue Gegebenheiten und Trends anzupassen. Entgegen dieser Notwendigkeit der Anpassung wird das System meist als wenig beweglich und vielen Akteuren Beharrungsvermögen attestiert. Nicht zuletzt wird auch die Komplexität des deutschen Gesundheitssystems eine Rolle spielen: Vieles hängt miteinander zusammen oder wirkt aufeinander ein:

Zum einen wird es in Deutschland durch den demografischen Wandel immer mehr alte und potenziell behandlungsbedürftige Menschen geben. Verbesserte Lebensbedingungen und medizinischer Fortschritt haben die Lebenserwartung in den letzten 150 Jahren deutlich steigen lassen. Damit steigt allerdings auch die Zahl an Menschen mit chronischen Erkrankungen-degenerativen Erkrankungen, sogenannte „Alterserkrankungen“.

Bis 2035 dürfte jeder dritte Mensch in Deutschland älter als 65 Jahre alt sein. Die Zahl der 67- bis 79-Jährigen wird von heute rund 10 Millionen bis 2037 auf über 14 Millionen ansteigen. Eine Lebensphase, in der die Gesundheitsausgaben in der Regel vergleichsweise hoch sind. Heißt: Die Anzahl der von Krankheiten betroffenen Menschen steigt, während die der beitragszahlenden Menschen sinkt.

Hinzu kommt ein Wandel des Krankheitsspektrums: Noch vor 150, 100 Jahren waren Infektionskrankheiten die größte Bedrohung. Trotz der Corona-Pandemie, die viele Menschenleben gefordert hat, sind sogenannte nicht übertragbare Krankheiten die große Herausforderung für die Gesundheitssysteme westlicher Industriestaaten: Krebserkrankungen, Diabetes, Herzkreislauf- und psychische Erkrankungen sind die Haupt-Todesursachen. Letztere sind inzwischen der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit nach Muskel-Skelett-Erkrankungen. Chronische und psychische Erkrankungen erfordern lange und ressourcenintensive Begleitung. Auch dadurch steigt der Finanzierungsdruck. Eine mögliche Antwort ist eine stärker bedarfsorientierte, präventiv und regional gesteuerte Gesundheitsversorgung.

Fachkräftemangel: Es wird immer mehr (hoch)betagte Menschen geben, die medizinisch-pflegerische Hilfe brauchen. Gleichzeitig gehen auch immer mehr Ärzt:innen oder Pflegende in Rente – oder üben ihren Beruf nicht mehr aus. Im ambulanten Sektor, also beispielsweise Arztpraxen auf dem Land hat man Schwierigkeiten, die Versorgung in Zukunft zu sichern, weil ältere Ärztinnen und Ärzte kein Nachfolger mehr finden.

Digitalisierung: Jahrelang hat sich das deutsche Gesundheitssystem erfolgreich der Digitalisierung entzogen, obwohl von ihr – richtig umgesetzt – deutliche Verbesserungen von Versorgung, Effizienz und Kostendämpfung ausgehen können: etwa, wenn digitale Systeme administrative Abläufe verschlanken oder die Zersplitterung des Gesundheitssystems in Form einer umfassend genutzten elektronischen Patientenakte den Patienten in den Mittelpunkt rückt. Oder wenn Assistenzsysteme für Diagnostik, Therapie und Pflege ärztlich-pflegerischem Personal Freiräume für Beratung von Patient:innen schaffen. Auch würde Digitalisierung eine wohnortunabhängige Versorgung ermöglichen (Telemedizin). Dass Deutschland hier großen Aufholbedarf hat, ist unbestritten.

Neue Rollenverteilung, Wertewandel, Gesundheitskompetenz, Beteiligung: Nicht zuletzt die neuen digitalen Möglichkeiten führen auch zu einem Rollenwandel von Patient:innen, Ärztinnen und Ärzten: Betroffene nutzen Diagnose- und Tracking-Apps, sind mit unzähligen Informationen konfrontiert beziehungsweise wollen von ihren Behandlern Antworten auf Fragen, die sich ihnen stellen. Sie können aber auch ihre Daten mit ihnen teilen, ihre Gesundheit monitorieren lassen. Das ändert wiederum die Arbeitsteilung in Praxen, bringt neue Berufsgruppen auf die Bildfläche und erfordert neue Kompetenzen. Zumal der Medizin auch in verstärktem Maße Anwendungen mit künstlicher Intelligenz unterstützend zur Seite stehen werden.

Medizinischer Fortschritt: Der medizinisch-technische Fortschritt  ermöglicht individualisierte Behandlungen wie nie zuvor (Stichwort: personalisierte Therapien). Immuntherapien gegen Krebs, neuartige Impfstoffe oder Gentherapien gegen seltene Erbkrankheiten, in Zukunft vielleicht sogar präventive Therapien bieten Patient:innen ganz neue Perspektiven für Gesundheit und Lebensqualität. Um solche Innovationen zu befördern und schnell verfügbar zu machen, müssen die Rahmenbedingungen im Gesundheitssystem angepasst werden. Von der Forschungsförderung, über den Umgang mit Daten, über leistungsbezogene Finanzierungsmodelle („pay for performance“).

Dass Gesundheit nicht nur eine Frage eines gut funktionierenden Gesundheitswesens ist – diese Erkenntnis steckt hinter dem Konzept von „Health in All Policies“ (HIAP): Es bedeutet, Gesundheit in allen Themenfeldern öffentlichen Handelns zu verfolgen. Jedes politische Ressort – ob Agrarwirtschaft, Umwelt oder Bildung, ob Wirtschaft, Justiz oder Finanzen – soll Gesundheit mitdenken und die Auswirkungen seiner Entscheidungen auf die Gesundheit der Menschen mitberücksichtigen.

Das beste Gesundheitssystem der Welt?

Mit den dritthöchsten Pro-Kopf-Ausgaben nach den USA und der Schweiz ist es zumindest eines der teuersten. Aber wie ist der Output vom Input?

Welches Land hat das beste Gesundheitssystem der Welt?

Wer das beste Gesundheitssystem hat, untersuchen regelmäßig verschiedene Studien. Wie gut ein Land abschneidet, kommt dabei auf die Bewertungskriterien an, die je nach Ranking anders angesetzt und gewichtet werden. Kriterien können beispielsweise die Qualität der Leistungen sein, die Zugangsmöglichkeiten, Gerechtigkeit im Gesundheitssystem und die Kosten. Wie auch immer sie ausfallen: Deutschland liegt in den meisten Rankings auf den oberen Plätzen.

ID Medical Index 2019:                                  1. Japan           2. Deutschland                      

Commonwealth Fund Report 2021/22:         1. Australien    4. Deutschland

US News & World Report Index 2023:           1. Schweden    7. Deutschland                      

CEOWORLD Health Care Index 2023:            1. Taiwan        8. Deutschland

Platz 3 der teuersten Gesundheitssysteme

Dass Deutschland bei vielen Rankings gut abschneidet, ist kein Wunder, denn Gesundheit lassen wir uns etwas kosten: Fast eine halbe Billion Euro gaben wir in Deutschland 2022 für Gesundheit aus, etwa 6.000 Euro pro Kopf, kaufkraftbereinigt entspricht das im internationalen Vergleich 8.011 US-Dollar. Platz 3 hinter den USA und der Schweiz.

Gesundheitsausgaben pro Kopf

Im Jahr 2022 verteilten sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von 274 Milliarden Euro wie folgt:

Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung

Wie gut ist das deutsche Gesundheitssystem im Vergleich?

Doch wie viel Gesundheit erhalten wir für dieses Geld? Stimmt der Gegenwert? Werden die Mittel sinnvoll eingesetzt? Was lässt sich jenseits der Rankings aus Statistiken über unsere Gesundheit herauslesen?

Beginnen wir mit der plakativen Frage: Wieviel Leben kriegen wir eigentlich fürs Geld? Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt in Deutschland bei 80,8 Jahren, Platz 23 unter den OECD-Ländern; der OECD-Durchschnitt beträgt 80,3 Jahre.

Lebenserwartung

Deutsche leben also „nur“ durchschnittlich lang. Und zur durchschnittlichen Quantität kommt die durchschnittliche Qualität: Wer in Deutschland das Rentenalter erreicht, kann sich nicht auf mehr „gesunde Lebensjahre“ freuen als Menschen in den meisten anderen EU-Ländern.

 

Gesunde Lebensjahre

Das klingt nicht spitze. Noch ungesunder hört es sich an, wenn man die Deutschen fragt, wie es ihnen geht: Mit „gut“ oder „sehr gut“ antworten nur 63 von 100, einer der niedrigsten Werte innerhalb der OECD-Staaten.

Selbsteinschätzung Gesundheit

Aber welche Aussagekraft haben diese Statistiken? Lebenserwartung und Rundumgutgefühl hängen ja nicht nur von der medizinischen Versorgung ab, sondern auch von Kultur, Bildung, Lebensführung oder gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen.

Und kann man den Antworten auf die Frage „Wie geht es Ihnen?“ trauen? Interessant ist hier der Blick auf Japan: Von einem Volk, das für sein Gesundheitssystem bewundert wird (Platz 1 ID Medical Index, oben), bezeichnen sich nur 36,6 Prozent als gesund, der mit großem Abstand schlechteste Wert in der OECD-Statistik.

Haben Deutsche und Japaner etwa zu hohe Ansprüche? Sind sie negativer, zurückhaltender und geht es ihnen besser, als sie glauben? Oder sind etwa die internationalen Rankings zu positiv?

Schauen wir daher auf die Zahlen und Fakten des Systems an sich.

 

Man findet viele Gründe, warum die Deutschen mit dem Gesundheitssystem zufrieden sein können:

 

Ganz oben steht der hohe Krankenversicherungsschutz: Die ambulante Versorgung ist zu 89,1 Prozent kostenlos (Platz 6 in der EU), die stationäre gar zu 96,7 Prozent (Platz 5). Auf Platz 1 gar liegt Deutschland bei der zahnärztlichen Versorgung. Diese ist zu 67,6 Prozent abgesichert, in der Schweiz nur zu 6,7 Prozent.

Umfang ambulante Versorgung
Umfang stationäre Versorgung
Umfang zahnärztliche Versorgung

Spitze ist Deutschland auch bei der Arzneimittelversorgung. In keinem anderen EU-Land ist die Kostenübernahme so umfassend. Zudem haben Patient:innen im EU-Vergleich nirgendwo so einen schnellen Zugang zu innovativen Medikamenten – die Zeitspanne zwischen der Marktzulassung und dem Datum der Verfügbarkeit beträgt in Deutschland 50 Tage. Beim Zweitplatzierten Schweiz dauert es schon 37 Tage länger.

Umfang Arzneimittelversorgung
Zeit Arzneimittelzulassung

Der guten Zahlen nicht genug: Wenn Deutsche ein Krankenhausbett brauchen, kriegen sie es, 7,8 Betten pro 1000 Einwohner – im OECD-Vergleich liegen wir damit auf Platz 4. 

 

Und auch zum Arzt oder zur Ärztin kommen wir vergleichsweise einfach: Bei allem gelegentlichen Ärger bei der Terminsuche, Deutschland hat (noch) eine der höchsten Ärzt:innendichte weltweit, mit 4,5 praktizierenden Ärzt:innen pro 1.000 Einwohnern. Das ist Platz 5, nach Bereinigung der Statistik vermutlich sogar Platz 3 (s. Kommentar Grafik).

 

Und: Die Deutschen haben die freie Arztwahl. Während etwa die Hälfte der EU-Staaten „Gatekeeper“-Systeme haben, in denen Hausärzt:innen entscheiden, ob man einen Facharzt bzw. eine Fachärztin sieht und welche:n, können wir uns unsere Behandler:innen hierzulande selbst auswählen.

Krankenhausbetten
Praktizierende Ärzt:innen

Man kann mit den positiven Statistiken fast ewig weiter machen: Wir können uns darüber freuen, dass wir genug Hightech haben – Platz 7 von 49 für CT/MRT und PET Scanner –, dass die Deutschen glücklich sind mit der Zeit, die Ärzt:innen für sie haben (87%), dass Letztere auch leicht verständlich erklären (94%) und Patient:innen in Entscheidungen einbeziehen (89%).

 

Also unterm Strich: Wird man in Deutschland krank, ist erstklassige Hilfe da. Wir haben einen so gut wie universellen Zugang zu Gesundheitsleistungen. Doch es gibt zwei Haken. 

Haken Nummer 1: In Deutschland bleiben zu wenige Menschen gesund!

Man könnte unser Gesundheitssystem auch Krankheitssystem nennen: Wir laufen drei- bis viermal öfter zum Arzt als etwa unsere Nachbarn aus Dänemark, pro Jahr durchschnittlich 9,6mal – am vierthäufigsten von allen OECD-Ländern. Ein beträchtlicher Teil der Mittel wird zur Behandlung von Erkrankungen aufgewendet, die über den Lebensstil vermieden oder gemildert werden könnten. Im Gesamtvergleich liegen wir mit 129 tödlichen Fällen pro 100.000 Bürger:innen bei „vermeidbaren Erkrankungen“ zwar unter dem Mittelwert, aber gut sind wir hier nicht.

 

Arztbesuche
Vermeidbare Todesfälle

Viel Geld für Krankheit, wenig für Gesundheit: Prävention muss gestärkt werden

Das zeigt, dass Prävention keine deutsche Stärke ist. Es ist, als ob immer wieder Menschen in einen reißenden Fluss fallen und wir dann aufwändige Rettungs- und Versorgungsaktionen starten, anstatt einmal eine Brücke über den Fluss zu bauen. Für Prävention und Vorsorge geben wir keine drei Prozent aus.

 

Unter anderem nutzen Menschen in Deutschland Schutzimpfungen noch zu wenig und nehmen Vorsorgeangebote zu selten wahr: Die Impfquote für Säuglinge gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten liegt genauso unter dem OECD-Durchschnitt wie die der über 65-Jährigen gegen die Grippe. Das Gleiche gilt für Vorsorgeangebote wie für Brustkrebs und Gebärmutterhalskrebs.

 

 

Schutzimpfungen und Vorsorgeuntersuchungen

Der Deutschland-OECD-Vergleich erbringt zwar keine krassen Abweichungen, aber Indizien dafür, dass im teuersten Gesundheitssystem Europas zu viel repariert und zu wenig vermieden wird. In dem noch der Irrtum lebt, dass Gesundheit in Praxen und Krankenhäusern entsteht, nicht beim einzelnen Bürger.

 

Gegen diesen Irrtum würde gegebenenfalls eine höhere allgemeine Gesundheitskompetenz helfen, doch die hat sich sogar verringert. Laut dem „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ sehen sich 58,8% der Deutschen „im Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt“. 2014 waren es noch 54 %.

 

Quelle: Doris Schaeffer et al, Professionelle Gesundheitskompetenz ausgewählter Gesundheitsprofessionen in Deutschland, Bielefeld 2023

Doch es geht nicht nur um Gesundheitskompetenz. Es geht um Lebensverhältnisse an sich und die Frage, ob sie Gesundheit begünstigen. Ist Gesundheit in unserem Alltag die leichtere Wahl? Sei es beim Einkaufen, bei der Fortbewegung, in unserem städtischen oder dörflichen Umfeld? Oder muss man sich im Alltag Gesundheit regelrecht erkämpfen?

 

Wie gesund man in einem Land lebt, entscheidet sich unter anderem auch im Bildungs-, Verkehrs- oder Landwirtschaftsministerium. Ein solcher Health-in-all-Policies-Ansatz wäre ein wichtiger Hebel, um stärkere Lebensqualität durch gesündere Lebensbedingungen zu schaffen. Gesundheit gehört nicht nur ins Gesundheitsressort.

Haken Nummer 2: Demografie und Digitalisierung - Nichts bleibt wie es ist.

Deutschland wird alt. Das sieht man z.B. an seinen Ärzt:innen. 44 Prozent sind älter als 55 und diese Babyboomer werden bald in Rente gehen.

Durchschnittsalter Ärzt:innen

Nicht nur, dass sie als Mediziner:innen fehlen, sondern sie werden im Alter selbst häufiger das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen. Das ist natürlich eine gesamtdemografische Entwicklung und gilt auch für Bäcker:innen, Banker- und Bademeister:innen. Die erwerbstätige Bevölkerung schrumpft, die nicht erwerbstätige wächst. Und Rentner:innen zahlen weniger in die gesetzliche Krankenkasse als während ihres Berufslebens.

Verteilung Rentner:innen - Erwerbstätige

Damit müssen immer höhere Kosten von immer weniger erwerbstätigen Menschen bzw. mit niedrigeren Beiträgen der Rentner:innen gegenfinanziert werden. Die Kostenexplosion ist absehbar, zumal wir immer länger leben und immer bessere medizinische Versorgungsmöglichkeiten haben. Schon heute steigen nicht nur Jahr für Jahr unsere Gesundheitsausgaben, sondern auch die Summen, um die sie sich vergrößern.

 

 

Erhöhung Gesundheitsausgaben 2007-2011                       39,7 Milliarden Euro

Erhöhung Gesundheitsausgaben 2017-2021                       97,1 Milliarden Euro

 

Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), 2023

Wie kann das deutsche Gesundheitssystem besser werden?

Was also tun? Drei Hebel werden immer wieder genannt:

Deutsches Gesundheitssystem verbessern - Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen

Die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung vorantreiben: Telemedizinische Leistungen hochfahren, Online-Auskünfte von Arztpraxen, digitales Monitoring von Therapien. Über den flächendeckenden Einsatz der elektronischen Patientenakte Patient:innen Zugang zu ihren eigenen medizinischen Daten geben und Doppeluntersuchungen vermeiden. Durch eine systematische Zweitverwertung dieser Datensätze neue Erkenntnisse für die Diagnostik, Therapie und Verbesserung der Gesundheitsversorgung gewinnen. Dazu ist viel auf den Weg gebracht und  im Gange, aber auch  noch einiges zu tun, um zu anderen Ländern aufzuholen.

Deutsches Gesundheitssystem verbessern durch bessere Translation

Den Studienstandort Deutschland stärken: Wir haben Spitzenwissenschaft, aber wenn es darum geht, dass diese Erkenntnisse über klinische Studien in die Praxis finden, bringen wir uns über schwerfällige Prozesse selbst ins Hintertreffen. Bei klinischen Studien von Anfang an dabei zu sein, bedeutet aber auch, von neuesten Erkenntnissen frühzeitig zu profitieren. Insbesondere an der Schnittstelle von Künstlicher Intelligenz und Biologie ist der Erkenntnisgewinn derzeit exponentiell.

Klinische Studien

Den Wert der Prävention erkennen und schöpfen: Am besten ist, wenn man erst gar nicht krank oder sehr krank wird. Die Medizin kann heute die Risikofaktoren ausmachen und wir können über den Lebensstil gegensteuern. Das darf aber nicht immer nur Sache des Einzelnen sein, sondern muss über Verhältnisse begünstigt werden. Insofern muss Gesundheit endlich als Aufgabe aller politischen Ressorts ernst genommen werden – Health in all Policies.

 

FAZIT

Noch dürften wir eines der besten Gesundheitssysteme der Welt haben – aber das auch nur wenn man „Gesundheitsversorgung“ als Krankenversorgung versteht. Dieser Status wird ohne grundlegende Reformen in unserem alternden Land nicht zu halten sein. Die Gemengelage aus demografischem Wandel, Ärzt:innenschwund und lebensstilbedingten Erkrankungen entfaltet zunehmend ihre Wucht. Um eines der besten Gesundheitssysteme zu bleiben, muss es sich grundsätzlich ändern.

  1. John Cena

    Der Artikel hat mir sehr geholfen

    vor 5 Monaten
  2. Anonym

    Lieber Herr Cena, das freut uns sehr zu hören! Beste Grüße aus der LdG-Redaktion
    vor 5 Monaten

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