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Bessere Gesundheit, weniger Kosten

Dr. rer. medic. h. c. Helmut Hildebrandt, OptiMedis AG

Was wäre, wenn sich „alle“ an einem Ort für die Gesundheit ihrer Bürger stark machen? Ärzte und Krankenhäuser, aber auch Kindergärten, Schulen, Betriebe und Sportvereine? Im südbadischen Kinzigtal wird seit 12 Jahren so gehandelt – dort sparen die beteiligten Krankenkassen inzwischen Millionenbeträge. In den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn startete Anfang 2017 ein entsprechendes Projekt und im hessischen Landkreis Werra-Meißner wird es gerade aufgebaut. Ein Gespräch mit dem Initiator Dr. rer. medic. h. c. Helmut Hildebrandt.

Herr Dr. Hildebrandt, sind die Menschen im Kinzigtal gesünder?

Hildebrandt: Sie waren ohnehin schon etwas gesünder als der Bundesschnitt. Dennoch: Je mehr die Leute mit uns zu tun haben, umso häufiger sagen sie zusätzlich in Umfragen: ‚Ich lebe jetzt noch mal gesünder’. 

 

Ist das nur ein Gefühl, wenn die Kinzigtaler behaupten, sie lebten jetzt gesünder, oder ist das auch messbar?

Hildebrandt: Wir können bei vielen Erkrankungen eine Verbesserung nachweisen: So sank zum Beispiel die Zahl der Brüche bei Versicherten mit einem Osteoporose-Risiko deutlich und Patienten mit Bluthochdruck werden häufiger leitlinienkonform behandelt als im Rest des Landes. Eine wissenschaftliche Evaluation durch die PMV-Forschungsgruppe konnte insgesamt eine deutliche Verbesserung von Fehl- und Unterversorgung und eine Reduktion von Überversorgung nachweisen.1 Letztlich zeigen auch die Einsparungen der beteiligten Krankenkassen, dass unser Projekt wirkt.

 

Menschen besser versorgen und dabei Geld sparen, wie geht das?

Hildebrandt: Unser Gesundheitssystem greift oft erst sehr spät, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Wir haben beispielsweise deutlich mehr Krankenhausfälle als in den OECD-Staaten. Wir sollten die Menschen erst gar nicht so krank werden lassen. Um es einmal bildlich auszudrücken: In unserem heutigen System fallen sie immer wieder von einer Brücke in einen reißenden Fluss. Wir starten Rettungsaktionen, um sie aus dem Fluss zu fischen. Wir könnten aber auch rechtzeitig die Brücke reparieren. 

 

Also mehr Prävention und Gesundheitsförderung?

Hildebrandt: Ja, aber gezielt: Es wird jetzt viel von Gesundheitsprävention geredet, allerdings kommt dabei oft nur ein ungezieltes Prävenieren heraus: Hier noch ein Angebot für die Mittelschicht, und da noch eins. Menschen, die es wirklich benötigen, werden nicht erreicht.

 

Dr. Hildebrandt darüber, wie ein alternatives Gesundheitssystem aussehen könnte

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Wie erreichen Sie die Leute?

Hildebrandt: Im Kinzigtal sprechen wir Risikopatienten für stärkere Erkrankungen vorwiegend über die Arztpraxen an. Wenn ein Arzt merkt, dass die Patienten auf dem Weg zum Diabetes zum Bluthochdruck, zur Herzinsuffizienz sind, dann steuert er schon gegen. Und wir gestalten Angebote, die auf die Patienten abgestimmt sind und möglichst wenige Hemmschwellen hervorrufen.

 

Sie gaben den Anstoß, die Gesundheitsversorgung in zwei benachteiligten Hamburger Stadtteilen, nämlich Billstedt und Horn, lokal neu aufzuziehen. Wie sieht es dort aus?

Hildebrandt: Zunächst einmal sieht man in Hamburg – wie auch in vielen anderen Städten – wie ungleich Gesundheit und Gesundheitsförderung in Deutschland verteilt sind. Menschen in Billstedt und Horn sterben zehn bis vierzehn Jahre früher als in wohlhabenderen Stadtteilen Hamburgs, das zeigte eine Auswertung von AOK-Daten von 2010 bis 2014. Während in Gesamt-Hamburg auf 324 Bürger ein Arzt kommt, ist es Billstedt oder Horn 1 Arzt auf 875 Menschen.

 

Warum zieht sich die Medizin aus Stadtteilen zurück, in denen sie gefragt ist?

Hildebrandt: Weil das dahinterstehende Geschäftsmodell nicht passt. Das ist keine Boshaftigkeit der Leistungserbringer. Unser Gesundheitssystem orientiert sich an der Kuration, nicht an der Gesundheitserhaltung und -verbesserung. In Stadtteilen, in denen gesundheitliche Probleme oft Folge sozialer Probleme sind und in denen es mehr Sprachbarrieren gibt, kommen Ärzte mit diesem Modell an ihre Grenzen: Wenn ein Arzt 30 Minuten mit einem Patienten redet, vielleicht noch eine muttersprachliche medizinische Fachangestellte hinzuzieht und sich vielleicht noch um Ansprechpartner für familiäre Probleme kümmert, wird das nicht entsprechend vergütet. Wir liefern Mediziner einem Vergütungssystem aus, in dem sie entweder auf Geld verzichten müssen oder sich rausziehen, weil es nicht zu schaffen ist.

 

Wieso wird das besser, wenn Gesundheitsförderung und -prävention regional organisiert sind?

Hildebrandt: Weil man dann ganz gezielt schauen kann, welche Probleme ein Ort hat und welche Maßnahmen greifen. In Billstedt oder Horn müssen Sie erst einmal die Sprach- und Kulturbarrieren abbauen und den Patienten durchs deutsche Gesundheitssystem lotsen. Das machen wir jetzt dort mit Deutschlands erstem „Gesundheitskiosk“ (siehe Infobox). Im südbadischen Kinzigtal indes schauen wir beispielsweise im Schulterschluss mit der betrieblichen Gesundheitsvorsorge, wie Arbeitnehmer gesund bleiben. Ein grundlegender Unterschied ist außerdem, dass wir den Fokus auf Gesundheit setzen: Wir reagieren nicht nur auf vorhandene Erkrankungen, sondern tragen dazu bei, dass Gesundheit entsteht.

 

Deutschlands erster „Gesundheitskiosk“

Fragen zur Gesundheit klären, Hilfe für den Arztbesuch oder Vermittlung in Vereine und Kurse – das bietet Deutschlands erster „Gesundheitskiosk“ den Bewohnern der Hamburger Stadteile Billstedt und Horn. Er hat zwei Standorte – in Billstedt und in Mümmelmannsberg und kann auch ohne Termin aufgesucht werden. Die medizinisch geschulten Mitarbeiter beraten in sieben Sprachen.

 

Wie sind Ihre regionalen integrierten Versorgungsstrukturen aufgebaut?

Hildebrandt: Ärzte sind Mitgesellschafter einer regionalen Managementgesellschaft, die aktiv an der Gesundheit der Bevölkerung arbeitet, gemeinsam mit anderen therapeutischen Einrichtungen, mit Kindergärten, Schulen, Sportvereinen, Pflegeheimen und vielen mehr. Durch Auswertung von Daten zur Bevölkerungsstruktur und anonymisierten Diagnose-Daten wissen wir frühzeitig, welche gesundheitlichen Probleme auf die Region zurollen. Wir erkennen, wo wir eine Über-, eine Unter-, eine Fehlversorgung haben. Dann können wir gezielt gegensteuern: Etwa mit arbeitsmedizinischen Untersuchungen, Bewegungsprogrammen und Ernährungsberatung für Kindergärten und Schulen. Oder auch mit fachgruppenübergreifenden Arzneimittelschulungen für Ärzte.

 

Aber ein Arzt bekommt ja jetzt trotzdem nicht mehr bezahlt, wenn er viel und lange mit Patienten spricht. Wieso soll er mitmachen?

Hildebrandt: Den zusätzlichen Zeitaufwand für Projektgruppensitzungen, Planungen, oder für neue Angebote wie ärztlich betreute Herzsportgruppen erhalten die Mediziner von der Managementgesellschaft extra vergütet. Als Mitgesellschafter der GmbH fließt ihnen außerdem ein Teil der Rückausschüttung der Krankenkasse wieder zu. Für die Ärzte ist es ein großer Gewinn, dass sie sich aufgrund der Anreizumkehr auf die Gesunderhaltung ihrer Patienten konzentrieren können. Und sie haben dank zusätzlicher Beratungsangebote für Patienten wieder mehr Raum für ihre eigentliche Arbeit mit den Patienten. Gleichzeitig profitieren sie von der koordinierten Versorgung – so ist es zum Beispiel eine große Erleichterung, wenn sie über eine zentrale elektronische Patientenakte einsehen können, was ihre Kollegen bereits veranlasst haben. Auch die weiteren Projektpartner profitieren von der engen Vernetzung und Zusammenarbeit. Im Kinzigtal beispielsweise haben sich immer mehr Ärzte unserem Projekt angeschlossen. Inzwischen gibt es dort mehr als 270 Leistungs- und Kooperationspartner (Stand: Juni 2018). In Billstedt und Horn sind es 49 Ärzte, 7 Pflegeeinrichtungen und über 100 Stadtteileinrichtungen.

Für die Krankenkassen gibt es ebenfalls mehrere Vorteile: Die Versicherten bleiben länger gesund, unnötige Kosten werden vermieden und ihr Image steigt. Im Kinzigtal ist das Interesse der Versicherten auch anderer Krankenkassen und privater Versicherungen sehr groß, einige wechseln dafür sogar die Krankenkasse. 

 

Wie funktioniert das Modell wirtschaftlich?

Hildebrandt: Wir orientieren die Honorierung am erzielten Gesundheitsnutzen. Die Krankenkassen, mit denen wir einen Vertrag zur integrierten Versorgung geschlossen haben, vergüten uns also den Nutzen und nicht die Leistungsmenge und das nur dann, wenn eine Senkung ihrer Gesamtkosten in Relation zur üblichen Kostensteigerung erreicht wurde. Denn wenn wir zum Beispiel durch bessere Koordination und Abstimmung unnötige und für Patienten belastende Krankenhausaufenthalte verhindern, spart das Kosten. Und wenn durch frühe Osteoporose-Prophylaxe Brüche und damit verbundene Krankenhausaufenthalte verhindert werden, ist das ebenfalls für die Patienten sowie für die Krankenkassen von Vorteil. 

 

Welche Summe haben die Krankenkassen konkret gespart?

Hildebrandt: Im Kinzigtal sanken von 2007 bis einschließlich 2015 die Ausgaben der beteiligten Krankenkassen im Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt um brutto 36,4 Millionen Euro. Nach Rückausschüttung eines Teils dieser Ersparnisse als Prämie an „Gesundes Kinzigtal“ blieb ihnen noch eine Einsparung von netto 11,3 Millionen Euro. 

 

Haben Sie das schon einmal auf ganz Deutschland hochgerechnet?

Hildebrandt: Wenn nur 5 Prozent der gesetzlich Versicherten in Deutschland in solch einem integrierten Projekt wären, dann würden die Krankenkassen 240 Millionen Euro jährlich sparen – nach Ausschüttung der Prämie für die Managementgesellschaft. Wären 20 Prozent der GK-Versicherten dabei, hätten sie eine Ersparnis von 961 Millionen Euro im Jahr. Es ist im Gesundheitswesen so viel möglich, wenn man die Freiheit hat, sich regional anzupassen, und die Menschen wirklich mitzunehmen.

1 Siegel, A., Niebling. W. (2017): Individueller Patientennutzen im "Gesunden Kinzigtal" – Zwischenergebnisse einer Trendstudie. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZEFQ)

  1. Doris Schmidt-Bergholz

    Ja, finde ich gut. Nicht die Krankheit darf vergütet werden, sondern der die Gesundheit fördernde Nutzen. Ansonsten würde es uns gehen, wie Eugen Roth schmunzelnd gedichtet hat: Zwei Dinge bringen den Arzt um sein Brot: A: die Gesundheit; Und B: der Tod; Drum hält er uns, damit er lebe, zwischen beidem in der Schwebe.

    vor 4 Jahren
  2. Christine Müller -Hamburg

    Großartig! Kurz und knapp hat HH hier ein Modell vorgestellt, wie Gesundheit besser organisiert werden könnte und nicht einer kurzsichtigen Gewinnentnahme für Ärzte, Pharma und externen Dienstleistern.
    Der Mensch im Mittelpunkt, aber nicht als Objekt sondern " in seiner Würde und Freiheit".
    Was hindert?
    Der wirtschaftliche Gedanke ist den Ärzten gut nahezubringen, er ist mit einer Wertschöpfung Ihrer Tätigkeit verknüpft und einer Wertschätzung Ihers Einsatzes.
    Wie geht gehen?
    Ich bin gespannt.. Nachhaltige Vermögensberatung einmal anders.

    vor 4 Jahren

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