Frau Idris, welche Rolle wird Technologie in der künftigen Gesundheitsversorgung spielen?
Die Rolle der Technologie für die Gesundheit in Zukunft ist kaum zu überschätzen und wird vieles grundsätzlich ändern. Einerseits wird uns Technologie – also etwa Wearables und Apps – schon im täglichen Leben helfen, gesund zu bleiben. Andererseits werden wir im Krankheitsfall besser versorgt. Technologie wird unser ständiger Begleiter sein, Daten analysieren, auswerten, an ausgewählte Leistungserbringer übermitteln und personalisierte Empfehlungen geben.
Und was ist die Folge daraus?
Langfristig erlaubt Technologie jedem:r Einzelnen, das Maximum des jeweils gesundheitlich Möglichen zu erreichen. In der Folge wird es – ich wage einen optimistischen Ausblick – sehr fortgeschrittene Stadien von chronische Erkrankungen (wie z.B. den amputierten Diabetischen Fuß), wie wir sie heute sehen, voraussichtlich nicht mehr geben.
Das müssen Sie erklären.
Viele Krankheitsbilder haben viel mehr Untergruppen in der Krankheitspopulation, als die Medizin derzeit adressiert. Patient:innen haben beispielsweise unterschiedliche Begleiterkrankungen, unterschiedliche Stadien der Krankheit, aber auch unterschiedliche soziale Faktoren, die mit in die Therapie reinspielen: Wer seine Krankheit noch gar nicht akzeptiert, macht bei der Behandlung nicht so mit, wie jemand mit Akzeptanz, zum Beispiel. Das Bildungsniveau wirkt sich ebenfalls auf Therapietreue aus. Es sind also wichtige Informationen, die Ärzt:innen haben müssen, und genau hier kann Technologie unterstützen. Derzeit läuft das alles händisch, bleibt an den einzelnen Mediziner:innen hängen und da ist es kein Wunder, dass so viele über Arbeitsüberlastung klagen.
Wie verändert sich ärztliche Behandlung, wenn so viel mehr Informationen über Patient:innen berücksichtigt werden?
Das sehen wir heute bereits in den USA, wo Prozesse inzwischen weniger arztzentriert strukturiert sind als im deutschen Gesundheitssystem. In der Notaufnahme, beispielsweise, übernimmt das medizinisch-pflegerische Personal den Prozess bis hin zur Anamnese. Die ärztliche Tätigkeit beginnt erst in dem Moment, in dem feststeht, dass ein Mensch mit einem individuellen Gesundheitsproblem eine:n spezialisierten Arzt sehen sollte. Alles andere machen die „Nurses“ selbst. Sie nutzen Tools wie unseres, die ihnen mit Informationen und Empfehlungen zur Seite stehen.
Das heißt die KI übernimmt ein Stückweit die fachliche Expertise?
Genau. Aktuell sind knapp 55.000 Krankheiten in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten ICD-11 verzeichnet. Hier braucht es Computertechnik. Diese Fülle an Informationen ist für einen Arzt oder eine Ärztin nicht mehr beherrschbar.
Wenn Patient:innen mittels KI auf ihren Alltagsdevices schon viel über ihre Gesundheit wissen – gehen sie dann seltener zum Arzt?
Dies müsste meiner Ansicht nach noch systematisch untersucht werden, um allgemeine Aussagen für Deutschland zu treffen. In der Vergangenheit war die Anzahl der Arztbesuche pro Versicherte in Deutschland relativ stabil. Unser Anspruch ist auch nicht, Arztbesuche zu ersetzen, sondern zu einem qualitativ hochwertigen ärztlichen Beratungsgespräch beizutragen. Außerdem möchten wir Nutzer mit niederschwelligen Informationen im Alltag unterstützen:
Wir arbeiten derzeit beispielsweise an einem personalisiertem Risiko-Tool, das unter den gegebenen Bedingungen wie den aktuellen Vitalparametern Einzelner oder klimatischen Bedingungen persönliche Empfehlungen geben wird. Beispielsweise erhält dann ein älterer Mensch mit Herz- und anderen Erkrankungen tagesaktuell Empfehlungen zur Tagesgestaltung – beispielsweise, ob vielleicht ein anderer Tag geeigneter wäre, um mit den Enkeln einen Ausflug zu machen.
Verstehen Sie, wenn das für manche Orwellsche Züge trägt?
Natürlich! Jedoch ist auch die Alternativ nicht für Jede und Jeden attraktiv: Versterben, weil an diesem Tag gerade eine zufällige, ungünstige Kombination von individueller Disposition, aktueller körperlicher Verfassung und belastenden Umweltfaktoren eingetreten ist.
Technische Lösungen sollten für alle sicher, zugänglich und verfügbar sein. Die Entscheidung, ob beziehungsweise inwieweit man digitale Lösungen nutzen möchte, sollte dann jede:r jeder für sich selbst treffen.
Anisa Idris ist VP Market Access & Health Policy verantwortlich für die Ausarbeitung von weltweiten Strategien und die Leitung der Umsetzung zur Etablierung der Kostenerstattung für die Produkte von Ada Health. Sie engagiert sich als Vorständin im Branchenverband Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung (SVDGV) und vertritt den Verband in Verhandlungen zur Umsetzung der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Anisa Idris studierte Wirtschaft und Business an der Otto Beisheim School of Management, Public Health an der London School of Tropical Medicine and Hygiene / University of London und absolvierte einen Master in Sozialrecht (LL.M) an der JurGrad GmbH / Westfälische Wilhelms-Universität Münster.
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