Alles begann mit einer Patientin, die ihre Diagnose nicht versteht und bei der Tochter ihrer Freundin nachfragt, ob sie ihr das mal laienfreundlich ausdrücken könne – denn die studiert Medizin. „Was hab ich“?, will sie wissen, und daraus entsteht kurz darauf die Idee für ein gleichnamiges Start-Up: Auf der Internetseite washabich.de reichen Patienten Befunde ein, die von Medizinstudenten und Ärzten in verständliches Deutsch übertragen werden. Binnen sechs Jahren sind mehr als 32.000 solcher Schriftstücke übersetzt worden, und das vielbeachtete Sozialunternehmen hat große Perspektiven, wie Ansgar Jonietz, einer der drei Gründer, berichtet.
Schon über 1.600 Medizinstudenten haben Befunde für Washabich übersetzt. Denken die angesichts der Texte manchmal: „Viel Lärm um nichts“?
Jonietz: Nein. Die medizinische Fachsprache hat ihre Berechtigung. Sie funktioniert unter Ärzten exakt und schnell. Auch Juristen haben ihre Sprache, die Autowerkstatt oder Journalisten. Nur: Das Vokabular, das für den Arzt normal ist, ist es für den Patienten eben nicht. Da kann ein ganz normaler Körperzustand sogar bedrohlich wirken.
Zum Beispiel?
Jonietz: Eine physiologische Lordose der HWS.
Wie erklären Sie’s den Patienten?
Jonietz: Wenn man von der Seite auf die Wirbelsäule schaut, dann ist die Wirbelsäule nicht gerade. Sie ist zum Beispiel am Hals nach vorn gebogen. Das nennt man Lordose. Wenn die Halswirbelsäule normal nach vorn gebogen ist, dann heißt das physiologische Lordose.
Studien zufolge werden Patienten nur 15 Prozent der medizinischen Fachbegriffe im Arztgespräch erklärt.
Jonietz: Mediziner werden in der Universität ab dem ersten Semester derart darauf getrimmt, etwas auf Schlau auszudrücken, dass ihnen später manchmal die deutschen Begriffe nicht mehr einfallen. Sie müssen regelrecht rückwärts lernen und ein Bewusstsein für ihre Fachsprache entwickeln. Manche Fachbegriffe sind auch in unsere Sprache eingesickert, etwa „akut“. Aber selbst dieses Wort müssen Sie für bestimmte Patientengruppen erklären.
Wollen Patienten denn alles verstehen?
Jonietz: Patienten möchten in jedem Fall viel häufiger als früher ihre Erkrankung verstehen, um sich gemeinsam mit dem Arzt für eine bestimmte Therapie entscheiden zu können. Als wir 2011 unser Portal frei geschaltet haben, erhielten wir nach zwölf Minuten den ersten Befund. Im nächsten Monat waren es bereits über 500 Befunde.
Nicht-Verstehen geht oft mit mangelnder Gesundheitskompetenz einher.
Jonietz: Es heißt, dass bis zu 80 Prozent der Informationen aus dem Arztgespräch verloren sind, sobald der Patient die Praxis verlässt. Vor allem bei schwierigen Diagnosen, wenn beide, Arzt und Patient, aufgeregt sind, ist es schwer, alles aufzunehmen. Doch ein Patient, der keine guten Informationen mit nach Hause nimmt, kann sich nicht therapietreu verhalten. Wenn er nicht versteht, was seine Tabletten bewirken, ist es wahrscheinlich, dass er sie nicht korrekt einnimmt. Man schätzt, dass mangelnde Therapietreue in Deutschland jedes Jahr zehn Milliarden Euro kostet, etwa, wenn OPs nötig werden, die vermeidbar gewesen wären.
Haben Sie positive Effekte Ihrer Befund-Übersetzung messen können?
Jonietz: Ja. 78 Prozent der Nutzer, die vor einer Entscheidung standen, hat die Übersetzung geholfen, sich für oder gegen eine OP zu entscheiden. 76 Prozent derjenigen, die vorher Angst hatten, hat sie viel von ihrer Angst genommen. 47 Prozent derjenigen, die Medikamente nehmen müssen, nehmen diese nach der Übersetzung regelmäßiger. 58 Prozent aller Befragten achten jetzt insgesamt mehr auf ihre Gesundheit.
Inzwischen verfassen Sie auch „Patientenbriefe“ – eine laienfreundliche Fassung des Arztbriefes aus dem Krankenhaus. Was erwarten sie hiervon?
Jonietz: Im Patientenbrief wird jedem Patienten und seinen Angehörigen erklärt, welches Krankheitsbild er hat, welche Untersuchungen gemacht worden sind und wie ein gesundheitsförderliches Verhalten nach der Entlassung aussehen würde. Die Gesundheitskompetenz der stationär behandelten Patienten wird also durch diesen Brief gesteigert. Durch das bessere Verständnis ihrer jeweiligen Krankheit können sie sich gesundheitsförderlich verhalten. Wir haben diese Idee an unserer Pilot-Klinik in Bad Ems erprobt und werten das Projekt derzeit mit der Technischen Universität Dresden aus. Was wir jetzt schon merken: Der Patientenbrief kam bei Patienten sehr gut an. Und auch Einweiser gaben positive Rückmeldungen: Es ist für einen niedergelassenen Arzt toll, wenn sein Patient nach dem Krankenhaus vorinformiert wieder zu ihm kommt.
Die Idee für solch einen Patientenbrief liegt eigentlich nahe, wieso kam bisher keiner drauf?
Jonietz: Es gab Ansätze, das waren oft kleine Forschungsprojekte. Wir versuchen, das wirklich in der Masse wirksam werden zu lassen. Unsere Vision ist, dass eines Tages jeder Krankenhauspatient solch einen Brief erhält. Es kann doch nicht sein, dass Patienten über Tage und Wochen professionell im Krankenhaus betreut werden und dann mit einem Brief nach Hause geschickt werden, den sie nicht verstehen. Das Bedürfnis nach guten Gesundheitsinformationen ist hoch. Gute, zielgruppenspezifische Gesundheitsinformationen werden in Zukunft etwas ganz Normales werden.
Was hab’ ich?
2012 gründeten der Informatiker Ansgar Jonietz und die Dresdner Medizinstudenten Anja und Johannes Bittner das Portal „Washabich.de“. Patienten reichen dort Befunde ein, die von Medizinstudenten ab dem 8. Semester sowie von Ärzten ehrenamtlich in laienverständliches Deutsch übertragen werden. Inzwischen schult „Was hab’ ich?“ auch Medizinstudenten in Kommunikation und bietet gemeinsam mit der Bertelsmannstiftung das interaktive Lexikon „befunddolmetscher.de“ an. Das gemeinnützige Unternehmen erteilt keine Zweitmeinung oder Beratung, es will Ärzte und Patienten auf Augenhöhe bringen. „Was hab’ ich?“ hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten und wird inzwischen auch von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe unterstützt. https://washabich.de
Fotograf: David Pinzer
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