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Seltene Erkrankungen: Mit Daten zu besserer Versorgung

Menschen mit einer Seltenen Erkrankung warten oft jahrelang auf die richtige Diagnose und passende Therapie. Durch eine stärkere Datennutzung könnten sie besser versorgt werden. Wie – das erläutert der Medizininformatiker Professor Dr. Holger Storf von der Universität Frankfurt.

Seltene Erkrankungen: Mit Daten zu besserer Versorgung
Professor Dr. Holger Storf, Professor für Medizininformatik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität und dem Universitätsklinikum Frankfurt.

Professor Dr. Holger Storf ist Professor für Medizininformatik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität und dem Universitätsklinikum Frankfurt. Unter anderem leitet er die Medical Informatics Group (MIG). In der Gruppe wurden mehrere Softwarelösungen für den Bereich Seltene Erkrankungen entwickelt, z.B. ‚se-atlas‘‚ ‚ZIPSE‘ und ‚OSSE‘ (Open-Source-Registersystem für Seltene Erkrankungen).

Herr Professor Storf, was ist Medizininformatik eigentlich?

Prof. Storf: Die Medizininformatik schlägt die Brücke zwischen Medizin und Informatik beziehungsweise zwischen Datenverarbeitung und Gesundheitsbetrieb. Das Fach ist zwar schon über fünfzig Jahre alt, aber aktueller denn je. Wenn Sie heute in ein Krankenhaus oder eine Praxis kommen, fallen jede Menge digitale Daten an. Die Medizininformatik möchte solche Daten für medizinische Fragestellungen nutzbar machen und die Gesundheitsversorgung somit verbessern.

Sie beschäftigen sich insbesondere mit Seltene Erkrankungen. Was können Sie als Informatiker in diesem Therapiefeld ausrichten?

Die Seltenen Erkrankungen sind geradezu ein Paradebeispiel, wie Daten die Gesundheitsversorgung verbessern können. Man kennt heute etwa 8.000 seltene Krankheiten – also Erkrankungen, bei denen weniger als fünf Menschen von 10.000 betroffen sind. Ein niedergelassener Arzt sieht in seinem gesamten Berufsleben vielleicht einmal einen Menschen mit einer solchen Erkrankung. Niemand würde erwarten, dass er dann sämtliches Wissen zu diesem Krankheitsbild parat hat …

Sprich, Patient:innen werden nicht richtig diagnostiziert?

Es dauert häufig Jahre, bis Betroffene die richtige Diagnose und Behandlung erhalten. Die Medizininformatik kann hier mit so genannten „Clinical Decision Support“-Systemen helfen, also mit digitalen Entscheidungshilfen.

Wie funktionieren „Clinical Decision Support“-Programme?

Das sind Programme, in denen Datenbanken hinterlegt sind. Ärzt:innen geben die Symptome und weitere Patient:innen-Daten ein und die künstliche Intelligenz durchforstet dann den Datenbestand und gibt im besten Fall eine Verdachtsdiagnose aus. Die letztliche Diagnose trifft der Arzt oder die Ärztin.

Welche Art von Daten stecken in den Datenbanken der „Clinical Decision Support“-Programme?

Wir beteiligen uns beispielsweise am „Smarten Arztportal für Patienten mit unklarer Erkrankung“ (SATURN). Dort laufen verschiedene KI-Lösungen im Hintergrund mit: Eine KI durchwälzt Literatur-Datenbanken, ob solch ein Fall schon einmal beschrieben worden ist. Eine andere durchforstet die medizinische Leitlinien.

Wieder eine andere sucht nach ähnlichen Fällen, welche es schon einmal in der Vergangenheit gab. Hat das Programm dann eine Seltene Erkrankung identifiziert, wird der behandelnde Arzt zusätzlich an eine digitale Expert:innensuche weitergeleitet, den SE-ATLAS

Was ist der SE-ATLAS?

Das ist eine Art digitales Telefonbuch, das Fachleute für Seltene Erkrankungen und Selbsthilfeorganisationen auflistet. Man gibt den Erkrankungsnamen ein und erhält eine geografisch sortierte Übersicht zu Versorgungseinrichtungen und Selbsthilfeorganisationen. Diese Kontakte stellen wir übrigens nicht nur Patient:innen bereit, sondern auch Mediziner:innen, denn Vernetzung ist im Bereich der Seltenen Erkrankungen essentiell. Das gilt insbesondere auch für die Forschung.

Wie kann die Medizininformatik die Forschung an Seltenen Erkrankungen unterstützen?

Forschung braucht eine gewisse Anzahl an Patient:innen, um eine vernünftige Datenbasis zu haben und genug Biomaterial, mit dem man forschen kann. Da es immer nur sehr wenige Patient:innen mit einer bestimmten Seltenen Erkrankung gibt, ist es auch schwierig, genug Proband:innen für klinische Studien zu finden. Deshalb bauen wir krankheitsspezifische Patientenregister auf und beteiligen uns an europäischen Vernetzungsprojekten.

Eine weitere Herausforderung ist im Moment noch die Kodierung von Seltenen Erkrankungen. Krankenhäuser vergeben Identifikationsnummern für die behandelten Krankheiten, aber die meisten Seltenen fallen unter Sammelkategorien. Man weiß also nicht genau, wie viele Fälle es von einer bestimmten Seltenen Erkrankung in Deutschland gibt. Und für Forschende ist es schwierig, für Studien passenden Patient:innen zu finden. Hier wird das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nun Abhilfe schaffen mit einem Kodiersystem für die Seltenen.

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Wie einfach oder schwer ist es für Sie, an Daten zu kommen?

Die betroffenen Patient:innen sind meist sehr bereit, ihre Daten für die Forschung preis zu geben. Denn oft gibt es keine Behandlungsmöglichkeiten oder nur sehr schlechte.

Und der Datenschutz?

Der ist zwar aufwändig, wird aber oft auch vorgeschoben. Inzwischen ist es nicht einmal mehr notwendig, dass alle Daten an eine zentrale Stelle geschickt werden, um damit zu forschen. Man kann auch den Analysealgorithmus an eine Klinik schicken und dort rechnen lassen. Nur noch das Ergebnis wird zurückgeschickt. Die Daten müssen die Häuser also nicht mehr verlassen, was aus Datenschutzsicht besser ist.

Sie sprachen vorher von europäischer Vernetzung, wie ist der Stand der Forschung, europäisch gesehen?

In Europa ist sie noch zersplittert, aber es gibt inzwischen verschiedene europäische Projekte, mit denen gegengesteuert werden soll: So haben sich im European Joint Programme of Rare Disease (EJP-RD) 130 Einrichtungen aus 35 Ländern zusammengeschlossen, damit es einfacher wird, dass Forschende sich untereinander finden und zusammenarbeiten können, oder dass sie an krankheitsspezifische Biomaterialien kommen, um zu forschen. Inzwischen sind 24 nationale Referenznetzwerke für Seltene Erkrankungen entstanden.

Was kann man von den internationalen Projekten lernen?

Die technische Umsetzung, die Konzepte dahinter, die Austauschformate, aber auch die Frage: Wie wurden die Systeme angenommen? Wurden sie von den Menschen genutzt? Umgekehrt ist der deutsche Ansatz, wie etwa in der Medizininformatik-Initiative, die Daten dort zu lassen, wo sie sind, und keine Kopien durch die Gegend zu schicken, sehr lobenswert.

Was wäre ein echter Fortschritt für Patient:innen mit einer Seltenen Erkrankung?

Wenn die Kodierung und damit spezifische Erfassung der Seltenen Erkrankungen deutschlandweit wie für April 2023 geplant eingeführt und wirklich umgesetzt wird, werden Betroffene sehr profitieren. Dann kann die Forschung besser nach Therapiemöglichkeiten schauen, wovon letztlich die Betroffenen sehr profitieren.

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