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Krebsforschung: Durchbrüche und wo wir in der Krebsmedizin stehen

Die Krebsforschung und Krebsmedizin stehen in einem gewaltigen Wandel. Ohne Künstliche Intelligenz wird es nicht mehr gehen. Wie weit ist die Krebsforschung und was könnte bald möglich sein? Prof. Dr. Angelika Eggert von der Berliner Charité über Fortschritte in der Krebsforschung.

Krebsforschung Durchbrüche: Interview mit Angelika Eggert

Das Wichtigste in Kürze:

  • Ein Tumor ist ein komplexes Zellgebilde, das auch das umliegende Gewebe beeinflusst.
  • Heute kann man Krebs viel gezielter behandeln, da man Tumorzellen molekulargenetisch analysieren kann, um herausfinden, welche Zellen genau die entscheidenden Probleme bereiten.
  • Beispiele für bereits erreichte und noch erwartete Durchbrüche in der aktuellen Krebsforschung sind personalisierte Krebstherapien, Liquid Biopsy, Einzelzelltechnolgien und Spatial Transcriptomics Technologien.

Frau Prof. Eggert, früher hat man bei Krebs ein „Gewächs“ an einem Organ gesehen. Was sieht man heute?

Man hat den Krebs früher tatsächlich viel grober betrachtet, als homogenes Gewebe – der Begriff „Geschwulst“ spricht ja Bände. Heute wissen wir: Ein Tumor ist wie ein Organ aus Zellen aufgebaut, die sich genetisch, von ihren Proteinen und von ihrem Stoffwechsel her unterscheiden.

Ein Tumor ist also ein vielgestaltiges Gebilde?

Ja, er hat verschiedene Zellbereiche mit jeweils unterschiedlichen Krebszellen. Und es geht sogar noch weiter: Zum komplexen Tumorgebilde gehören auch Zellen in seiner Umgebung, etwa Immun- oder Gefäßzellen, die der Tumor geschickt zu seinem Vorteil umprogrammieren kann.

Wir wissen mittlerweile, dass sich in vielen Tumorarten die Krebszellen fortlaufend wandeln. Die Krebszellen passen sich damit an Signale aus der Umgebung an. Irgendwann verändern sich bestimmte Zellen des Tumors so dramatisch, dass sie sich aus ihrem Gewebeverband lösen, durch den Körper wandern und andere Organe besiedeln.

Also Metastasen bilden.

Genau. Und auch da hat sich unsere Sicht verändert. Früher dachten wir, dass reine molekulare Eigenschaften der Zellen diesen Wanderungsprozess auslösen. Inzwischen wissen wir, dass diese Zellen das Wandern auch lernen, indem sie mit Immun- und Entzündungszellen ihrer Umgebung kommunizieren. 

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Krebstherapie?

Es kann sein, dass Sie den einen Zellbereich in einem Tumor mit einer Therapie hemmen und damit gleichzeitig einem anderen Zellbereich einen Vorteil verschaffen. So kann es passieren, dass – auch wenn Sie unter der Therapie viele Krebszellen töten – sich gleichzeitig resistente Varianten bilden.

Dann kommt es bei zunächst gutem Ansprechen auf die Erstbehandlung im weiteren Verlauf zu einer Therapieresistenz und damit zum Rückfall. Wir selbst untersuchen solche Mechanismen.

 

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Mit welchen Technologien arbeitet die Krebsforschung aktuell?

Zum Beispiel mit der neuen Einzelzelltechnologie, die wir an der Charité in Kooperation mit dem Max-Delbrück-Centrum Berlin intensiv anwenden. Mit dieser Methode können wir innerhalb des Tumorgewebes jede einzelne der Abermillionen Tumorzellen molekulargenetisch analysieren und herausfinden, welche Zellen genau die entscheidenden Probleme bereiten und wie wir sie gezielt treffen können. Das ist die Voraussetzung dafür, um noch weit gezielter als heute Krebs zu therapieren. Und genau das ist auch nötig.

Das bedeutet, die Krebsforschung 2023 und die künftige Krebsmedizin ist Hightech-getrieben?

Ja. Ganz hoch im Kurs sind auch sogenannte Spatial Transcriptomics Technologien. Damit können wir die Zellen, die wir untersuchen, räumlich im Tumor einordnen – und dann ganz andere Funktionsanalysen dieser Zellen machen.

Das ist eine höchst vielversprechende Technologie gerade für die Krebsforschung, die ohnehin nur noch in Kooperation verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen denkbar ist: Molekularbiologie, Zellbiologie, Immunologie, Datenwissenschaften, Systembiologie, die ein biologisches System wie einen Tumor in seiner Gesamtheit verstehen will. Außerdem Genomik, Proteomik und Metabolomik, also die Erforschung von Genen, von Proteinen und vom Stoffwechsel im ganz großen Stil. Alle diese Disziplinen kooperieren heute, um zu begreifen, wie ein Tumor funktioniert.

Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz in der Krebsforschung?

Die Analyse von vielen Millionen einzelner Zellen in einem Tumor liefert eine unvorstellbare Fülle an Daten schon für jeden einzelnen Patienten. Die Frage ist, wie man diese Daten intelligent auswerten kann: Wie kann man sie zusammenführen und mit jenen von anderen Patient:innen vergleichen, und wie kann man sie in Netzwerken austauschen? Ohne datenwissenschaftliche Lösungen und Künstliche Intelligenz ist diese Informationsfülle gar nicht greifbar und verdaubar. Wir brauchen also noch viel mehr Zusammenarbeit mit Datenwissenschaftlern.

In der Krebsmedizin bewegt sich also viel. Womit können wir in der Krebsforschung rechnen?

Wir stehen am Beginn einer sehr spannenden Zeit, weil eben ganz revolutionäres Handwerkszeug wie die Einzelzelltechnologie gerade erst entwickelt wurde – und erst in den kommenden Jahren so richtig in die breite Anwendung in der Forschung geht.

Das wird unser Bild vom Krebs noch einmal deutlich, vielleicht entscheidend verfeinern. Und die andere Entwicklung, die uns gerade in der Behandlung umtreibt, sind die Immuntherapien wie die CAR-T-Zelltechnologie oder Checkpoint-Blocker, die wir noch lange nicht voll ausschöpfen und wo wir gerade noch voll in der Lernkurve stehen.

Stichwort Krebsbehandlung: Was haben wir noch, wenn wir das Therapiearsenal durchgehen?

Wir haben die sogenannte zielgerichtete Therapie mit Medikamenten, die an ganz spezifischen Angriffspunkten eines Tumors ansetzen. Wir haben immer noch die Chemotherapie, die ja auch immer besser wird. Wenn ich einen rein lokalisierten Tumor habe, helfen mir auch der Chirurg und die Strahlentherapie sehr viel weiter.

Auch da können wir inzwischen in höhere Präzision gehen, zum Beispiel durch Robotik, aber auch durch Protonentherapie und andere Ansätze oder durch bildgebungsgesteuerte Strahlentherapie. Also auch da haben wir Verbesserungen, aber leider meist „nur“ auf einen lokalen Tumor bezogen.

Werden die einzelnen Methoden in der Krebstherapie kombiniert eingesetzt?

Noch zu wenig. Wir sind gerade dabei, für jeden Patienten die richtigen Therapiekombinationen in der richtigen Reihenfolge zu finden. Denn wenn man die richtigen Therapiekombinationen wählt, dann wird ein Tumor auch weniger oder überhaupt nicht resistent gegen diese Therapien.

Wenn eine neue Therapie entwickelt wird, folgt ja erst eine alleinige Anwendung dieser Therapie. Und dann ist man enttäuscht, wenn darauf Resistenzen entstehen. Wir müssen da viel mutiger sein, in Kombinationstherapien zu gehen.

Nun will die Krebsmedizin ja die Behandlung immer mehr auf jeden einzelnen Patienten maßschneidern. Macht das die Therapie nicht noch schwieriger?

Das ist in der Tat ein neuer Ansatz. Und das braucht auch ganz andere klinische Studien, mit vielen einzelnen Patientengruppen. Aber der Ansatz ist natürlich großartig, weil wir immer ganz nah dran bleiben an der individuellen molekularen Diagnostik des Tumors während der Erkrankung. So können wir immer wieder die Therapie anpassen, je nachdem wie sich der Tumor eines Patenten molekular entwickelt.

Da kommen dann moderne Ansätze wie die Liquid Biopsy ins Spiel, die uns allein über eine Blutuntersuchung während der Behandlung und danach zeigen kann, wie gut eine Therapie wirkt oder nicht, um dann wieder anpassen zu können.

Wie weit ist die Technologie der Liquid Biopsy?

Ebenfalls noch am Anfang, aber höchst vielversprechend. Wir selbst forschen da viel in der Weiterentwicklung, weil die Methodik inzwischen so empfindlich ist, dass wir im Blut Vorboten zumindest einer zurückkehrenden Krebserkrankung sehr frühzeitig erkennen.

Wenn wir wissen, welche Eigenschaften die Krebszelle hat, sehen wir, dass wir im Blut zuerst Nachweise finden, dass ein Krebs wiederkommt. Und zwar bevor wir in den CT- oder MRT-Bildern des Patienten ein erneutes Tumorwachstum sehen. Das ist eine tolle Technologie, die man weiter entwickeln muss, auch hin zur Früherkennung von erstmals auftretenden Tumoren.

Ist die molekulare Diagnostik also die Voraussetzung für eine Therapie, die auf die molekulare Biologie eines Tumors zielt?

Unbedingt! Und diese molekulare Diagnostik muss zuverlässig sein. Wenn wir uns anschauen, was wir in den vergangenen Jahren gemacht haben mit dem sogenannten Bulk Sequencing, dann haben wir ein Stück Tumor genommen, und alle Zellen für die Analyse miteinander vermischt. Das Ergebnis ist dann so präzise wie vergleichsweise ein Smoothie, in dem man die einzelnen Früchte nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Will heißen: Ich erkenne da gar nicht mehr viel, weil das alles Durchschnittswerte sind.

Wenn ich aber wissen will, welche einzelnen Zellen des Tumors ich angreifen muss, dann muss ich in der Diagnostik präziser werden – hier setzt die molekulare Diagnostik von Krebs an. Genau diese Präzision verspricht ja die Einzelzelltechnologie in der mittelfristigen Zukunft – also nicht nur in der Forschung, sondern auch als Methode der Präzisionsdiagnostik. Die gibt uns den Input, welche Ziele wir auf welche Weise in einem großen Tumor angreifen müssen.

Ist die Einzelzelltechnologie überhaupt schon in der Routine-Behandlung angekommen?

Nein. Aber es gibt erste experimentelle Einsätze, in denen ganz neue Therapieziele in einem Tumor identifiziert wurden. Und die Zeit wird zeigen, wie die darauf ausgerichteten Therapien funktionieren.

Aber ich würde behaupten: Wenn wir geschickte, gezielte Therapiekombinationen finden würden, wären wir einen großen Schritt weiter. Bei den Immuntherapien sind wir bereits diesen Schritt weiter.

Da sehen wir am Krankenbett, dass wir heute Patient:innen helfen können, für die wir noch vor fünf Jahren nichts mehr hätten tun können. Das macht sehr viel Freude! Und in diese Richtung wird es bei den molekular gerichteten Therapien inklusive Präzisionsdiagnostik auch gehen.

Bekomme ich als Patient:in in einer Klinik heute schon das, was die Krebsmedizin kann?

Das kommt darauf an, wo Sie hingehen. Aber um es deutlich zu sagen: Nicht jede Krebserkrankung braucht high-end-personalisierte Medizin, sondern es gibt ganz viele Krebserkrankungen, mit denen man beim niedergelassenen Krebsarzt „um die Ecke“ bestens aufgehoben ist.

Um herauszufiltern, wer in ein High-End-Zentrum gehört und wer nicht, ist Aufgabe der neuen Krebsnetzwerke, die gerade entstehen. Die personalisierte High-End-Medizin bekommt man in den Comprehensive Cancer Centers, aber auch in diesen Zentren fällt nicht jeder in die Schublade der individualisierten Medizin.

Vorhersagen zu können, wer von welcher Behandlung am meisten profitiert, das gehört ja auch zur individualisierten Medizin. So kann man sich die Aufgaben unter allen Beteiligten in der therapeutischen Krebsmedizin sinnvoll aufteilen.

Wie lässt sich diese individualisierte Krebsbehandlung am besten umsetzen?

Das ist eine Frage von Netzwerkstrukturen, und da bemüht sich vor allem die Deutsche Krebshilfe sehr. Sie hat in der Vergangenheit schon viel bewegt, zum Beispiel durch die Förderung der Comprehensive Cancer Centers.

Und wir müssen auch berücksichtigen, dass nicht für jeden Patienten und jede Patientin in dieser oder jener Lebenssituation das gleiche Konzept das richtige ist. Wir müssen die Wünsche des Patienten und seine jeweilige Lebenssituation unbedingt mit einbeziehen; sonst findet man nicht das richtige Behandlungskonzept!

Wenn die personalisierte Krebsmedizin immer wichtiger wird, wie wird das in zehn Jahren aussehen und funktionieren?

Hoffentlich so: Ich habe eine Tumorerkrankung und es wird eine Biopsie gemacht und mit allen Omik-Hightech-Untersuchungen analysiert, wenn es notwendig ist. Wenn ich eine Krebserkrankung habe, die bis dahin schon hundertprozentig anderweitig heilbar ist, etwa durch eine Operation, brauche ich diesen Aufwand nicht zu betreiben. In allen anderen Fällen schon.

Und dann weiß der behandelnde Arzt bzw. die behandelnde Ärztin, welche Medikamente plus Immuntherapie die richtigen sind. Wenn wir sehr gut unterwegs sind, dann kann man vielleicht schon die Zellen in einem Tumor identifizieren, die demnächst metastatieren werden und die Wanderung dieser Zellen in andere Organe verhindern.

Unser Spektrum der Therapien wird sich in Zukunft weiter vergrößert haben. Wenn man früher von gezielten Medikamenten gesprochen hat, dann waren das sogenannte kleine Moleküle. Jetzt können wir in diesem Bereich auch an so etwas wie mRNA-Technologien denken, die spätestens seit COVID-19 vielen bekannt sind. Also das Spektrum dessen, was unter den Begriff „Medikament“ fällt, wird sich ganz sicher erweitern.

Noch ein kleiner Ausflug in ihr Spezialgebiet: die Krebsmedizin von Kindern. Sind Tumore von Kindern völlig anders als die von Erwachsenen?

Ja, sind sie, weil es auch andere Krebserkrankungen sind, zum Teil mit anderen molekularen Eigenschaften. Deshalb ist es uns auch so wichtig, dass Krebsforschung und Medikamentenentwicklung gezielt für Kinder stattfindet.

Wenn wir neue Angriffspunkte für Medikamente finden, wäre es schön, wenn wir Unternehmen fänden, die diese klinisch für die Kinder weiterentwickeln. Auch wenn die Fallzahlen niedriger sind.

 

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Es gibt ja nun die Initiative Vision Zero. Das bedeutet: die Vision von null Krebstoten. Wie realistisch ist der Gedanke, dass wir den Krebs besiegen werden?

Ganz auf Null zu kommen, ist schwierig, weil die Therapien, die wir auf absehbare Zeit verabreichen werden, auch aggressiv sind und es allein deswegen schon zu Komplikation kommen kann. Trotzdem muss Null das Ziel sein.

In der Kinderkrebsmedizin sind wir momentan bei 82 Prozent Heilung. Eine Rate von 95 Prozent ist ein gutes Ziel. Auch das wird Jahre dauern. Aber das ist realistisch. Trotzdem muss man sich das Ziel 100 Prozent stecken, sonst kommen wir nicht voran.

Da haben Sie noch einen wichtigen Punkt erwähnt: dass Krebstherapien aggressiv sind. Es muss ja auch ein Ziel sein, die Behandlung schonender zu machen.

Genau. Wenn wir uns zum Beispiel die geheilten Kinder anschauen, haben zwei Drittel der Kinder später im Erwachsenenalter mit Spätfolgen zu kämpfen.

Das können leichte Folgen sein wie eine Hormonstörung, die wir leicht ausgleichen können. Das können aber auch schwerwiegende Folgen sein. Und das müssen wir möglichst verhindern mit neuen molekularen Therapien oder Immuntherapien, die so gezielt wie möglich wirken. Damit wir nur noch so wenig Chemotherapie brauchen wie unbedingt nötig.

Unser größter Traum geht hin zu einer Medizin, in der wir mit der Liquid Biopsy Zellen, die aus dem Ruder laufen, so früh erkennen, dass wir sie noch leicht eliminieren können, damit sich gar kein großer Tumor bildet. Hier kommt dann auch die Prävention wieder ins Spiel, und in die müssen wir in Deutschland deutlich mehr investieren.

 

Prof. Dr. Angelika Eggert ist Direktorin der Klinik für Pädiatrie mit dem Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie an der Charité, Berlin und Standortsprecherin für Berlin im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK). Darüber hinaus ist sie Mitglied im Direktorium des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen Berlin.

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