Der frühere Spitzenmanager Bernd Rosenbichler gab seinen Beruf auf, um die Lage von Menschen mit seltenen genetischen Erkrankungen in Deutschland zu verbessern. Denn als bei seinem Sohn eine entsprechende Erbkrankheit diagnostiziert wurde, fiel die Familie ins Leere.
Bild: Eines der Gemälde von Ben Rosenbichler. Info: https://bens-art.de
Herr Rosenbichler, Ihr Sohn leidet am Alström-Syndrom, einer seltenen Erbkrankheit. Wie fanden Sie das heraus?
Als Ben ein halbes Jahr alt war, merkten wir, dass etwas mit seinen Augen nicht stimmt. Es dauerte noch dreieinhalb Jahre, bis wir wussten, dass es das Alström-Syndrom ist. Wir hatten damals nach langer Suche schließlich einen Gentest machen lassen, und die Tester hatten ihn eigenmächtig ausgeweitet und auch auf Alström geprüft. Nur so wurde die Erkrankung entdeckt.
Info: Über das Alström-Syndrom
Das Alström-Syndrom ist eine seltene Erbkrankheit, in deren Verlauf immer mehr Organe betroffen sind, also eine sogenannte „Multisystemkrankheit“. Betroffene Kinder erblinden in der Regel im Alter von zwölf Jahren, und viele von ihnen verlieren schon früh ihr Hörvermögen. Die Patient:innen haben kein Sättigungsgefühl, und viele erkranken an Typ-2-Diabetes, auch infolge einer Insulinresistenz. Weitere Störungen betreffen den Stoffwechsel, das Hormonsystem, die Nieren, Leber und das Herz (Fibrose, Kardiomyopathie,...). Die Lebenserwartung ist beim Alström-Syndrom reduziert, meist werden Betroffene nicht älter als 40 oder 50 Jahre. Die Ursache des Alström-Syndroms ist noch nicht vollständig geklärt. Die Krankheit wird ausgelöst durch Mutationen im Gen ALMS1.
Was bedeutet das Alström-Syndrom für Ihren Sohn?
Er kann durch diesen Gendefekt nur wenig sehen und wird erblinden. Womöglich wird er in wenigen Jahren auch taub sein. Alström hat schädliche Folgen für viele Organe und führt zu zahlreichen weiteren Erkrankungen. Leider gibt es keine ursächliche Therapie – und nur wenige Experten.
Wie war es für Sie, zu erfahren, dass Ihr Kind eine schwere Erkrankung hat, gegen die es keine Therapie gibt?
Das war eine sehr „harte“ Landung. Vor allem, weil wir den Gentest nur für bestimmte Augenerkrankungen beauftragt haben. Es wurde dann ohne unser Wissen „breiter“ gesucht – mit der Diagnose Alström. Da man uns dies auch nicht erklärt hat, fanden wir die ersten Antworten auf Wikipedia. Andererseits war mit der Diagnose unsere jahrlange Irrfahrt beendet. Wir konnten uns endlich gezielt informieren, planen und handeln.
Inwiefern ist der Weg zur Diagnose einer seltenen Erkrankung eine Irrfahrt?
Es ist, als ob Sie mit Ihrem Auto zum Service fahren. Die erste Werkstatt checkt die Scheibenwischer, die zweite die Batterie, die dritte die Reifen – aber keiner weiß, ob das Auto in Summe funktioniert. So ist es auch mit Alström: Sie besuchen Kardiolog:innen, Augen- und HNO-Ärzt:innen, machen Bluttests, gehen zur Endokrinologie und Diabetologie und zu vielen mehr. Keiner schaut ganzheitlich drauf. Es gibt keine zentrale Anlaufstelle, keine helfende Hand, die Sie durch solch einen Prozess führt.
Und diese helfende Hand wollen Sie nun selbst schaffen – und haben dafür sogar Ihre hohe Führungsposition bei BMW aufgegeben?
Mein Sohn hat mich unglaublich inspiriert: Obwohl er kaum sieht, malt er wunderbare Bilder. Er sagt, wir seien Glückskinder, und nimmt jede Herausforderung an. Zu Alström gibt es wenig Forschung, kein wirkliches Verstehen, was genau diese Erkrankung bedeutet, und bisher keine Chance auf Heilung. Allein schon der Versuch, etwas für Kinder wie Ben zu verbessern, ist der richtige Weg. Meine Vorgesetzten zeigten übrigens großes Verständnis für meine Entscheidung.
Sie haben den Alström Syndrom e.V. gegründet und das Social Start-up Branewo, unter dem auch die Alström-Initiative läuft. Was genau haben Sie vor?
In Deutschland leben mehr als drei Millionen Menschen mit einer seltenen genetischen Erkrankung. Die Hälfte davon sind Kinder. Sie warten vier bis acht Jahre, bis sie die richtige Diagnose haben. Nur die Diagnose. Gerade mal für fünf Prozent von ihnen gibt es danach auch eine Therapie.
Deshalb arbeiten wir an Konzepten und Lösungen für Forschung, Früherkennung, Therapie, Life-Management und mehr. Das Alström-Syndrom dient als Pilotprojekt – alles, was wir hier erarbeiten, wollen wir auf so viele andere Krankheiten wie möglich skalieren.
Was kann ein Social Start-up ausrichten?
Wir können zunächst sehr viel mehr Aufmerksamkeit für das Thema schaffen. Nur wo es eine hohe Relevanz oder genug Daten gibt, wird auch genug geforscht. Nur wo viele Betroffene zusammenkommen, kann man Erfahrungen teilen und daraus lernen.
Spricht da vor allem der frühere Manager? Was fällt Ihnen an unserem Gesundheitssystem auf?
Aus Managementsicht kann man sich schon immer wieder wundern. Ich vermisse klare Zielsetzungen und eine klare Ausrichtung. Um es am Beispiel Alström zu veranschaulichen: Bislang wird nur zu Einzelaspekten geforscht und nicht mit einem holistischen, einem ganzheitlichen Blick. Da muss es doch das Ziel sein, das wenige Wissen, das es weltweit an verschiedenen Orten gibt, zusammenzuführen und es einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
Als Neuankömmling im System wundere ich mich, warum fast nur nationale Patientenregister vorangetrieben werden. Wo ist da der Sinn? Es geht um eine Krankheit, die global auftritt. Es gibt fast keine Fallzahlen. Keine Empirie. Da gibt es doch nur eine Lösung: ein globales Patientenregister.
Und das wollen Sie nun als Einzelkämpfer aufbauen?
Ich möchte vor allem für Aufmerksamkeit und Vernetzung sorgen. In Großbritannien wird derzeit von Alström UK ein erstes globales Register aufgebaut, damit müssen wir uns verbinden. Ich habe jüngst auch deshalb die Patientenorganisation Alström Syndrom e.V. gegründet, damit wir hier in Deutschland möglichst viele Daten zusammenbekommen – für ein nationales Alström-Register der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung. Daraus ergibt sich dann auch eine Synergie mit dem Register von Alström UK. Es gibt so viele Möglichkeiten, die Situation zu verbessern – in die Forschung, die Hilfsmittel, die Wahrnehmung zu investieren. Ich sehe meine Rolle vor allem darin, die Fäden zusammenzuführen.
Derzeit sieht man in Großstädten Plakate von Ihrem Start-up mit einem künstlerisch gestalteten Socken. Worum geht es?
Den Entwurf hat Ben gemacht und wir haben für ganz Deutschland nur 80 solcher Socken produziert, die nun zu verkaufen sind. 80 Socken auf 80 Millionen Einwohner, das entspricht der Prävalenz des Alström-Syndroms von 1:1 Million. Die Kampagne ist mit einer Petition verbunden, eine freiwillige Früherkennung für alle seltenen, genetischen Erkrankungen zu schaffen. Mit einem einzigen Bluttest könnte sehr vielen Menschen ein leidvoller Weg erspart werden.
Selbst wenn es noch keine Therapie gibt, hilft dieses frühzeitige Wissen, gut mit der Erkrankung umzugehen. Was wir heute noch ertragen, acht Jahre Zeitvergeudung bis zur Diagnose, würden wir so in keinem anderen Lebensbereich in Kauf nehmen. Deshalb hat unsere Kampagne den Hashtag #wouldyouaccept. Man sollte alle diagnostizierbaren, seltenen genetisch bedingten Erkrankungen in das Neugeborenenscreening aufnehmen – unabhängig von der Therapierbarkeit. Und wir müssen als Gesellschaft über die Möglichkeiten und Risiken einer Genomsequenzierung bei Neugeborenen diskutieren. Je früher man einen Gendefekt erkennt, umso früher kann man reagieren.
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