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„Stigmatisierung ist ein Public-Health-Problem“

Stigmatisierung kann krank machen. Darauf verweist die Psychologin Dr. Janine Dieckmann vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Sie forscht dort zu Diversität, Engagement und Diskriminierung.

Ein blauer OP-Handschuh liegt auf weißem Hintergrund

Frau Dr. Dieckmann, wie hoch schätzen Sie das Problem der Stigmatisierung bestimmter Erkrankungen ein?

Es gibt Erkrankungen, da ist es gravierend. Menschen, die mit HIV infiziert sind, beispielsweise, können heute medizinisch gut versorgt werden und leben. HIV ist unter medikamentöser Therapie nicht übertragbar. Gleichwohl stoßen sie in hohem Maß auf Vorurteile und Diskriminierung. Der medizinische Fortschritt ist da, der gesellschaftliche nicht. Auch Menschen mit psychischen Erkrankungen werden in unserer Gesellschaft oftmals stigmatisiert oder generell Erkrankungen, die die Leistungsfähigkeit und das „Funktionieren“ in unserer Gesellschaft vermeintlich einschränken.

Welche Diskriminierung erfahren Menschen mit HIV, zum Beispiel?

Behandler:innen ziehen sich doppelte Handschuhe an, obwohl das medizinisch nicht nötig ist. In einigen Praxen werden Menschen mit HIV ans Ende der Sprechstunde gelegt oder Krankenakten mit einem besonderen Hinweis markiert. Wir haben mit der Deutschen AIDS-Hilfe 2021 eine Umfrage unter Menschen mit HIV durchgeführt: 90 Prozent sagen, sie leben gut mit ihrer HIV-Infektion. Dank der guten Therapiemöglichkeiten fühlen sich drei Viertel der Befragten gesundheitlich nicht oder nur wenig eingeschränkt. 95 Prozent berichten jedoch von mindestens einer diskriminierenden Erfahrung in den letzten 12 Monaten aufgrund von HIV – und das vor allem im Gesundheitswesen. Das Tragische: Ein Viertel der Befragten hatte die Stigmata von außen verinnerlicht.

Also, sie stigmatisieren sich selbst?

Genau, zusätzlich zur Stigmatisierung von außen haben sie auch die gesellschaftlichen Bilder und Vorurteile internalisiert und verhalten sich auch dementsprechend. Sind zum Beispiel weniger offen mit ihrer Infektion. Das kennt man auch aus anderen Bereichen: Studien zeigen, dass Schülerinnen, denen man sagt, Mädchen seien schlecht in Mathematik, in Tests schlechter abschneiden, als Schülerinnen, denen man das vorher nicht erzählt hat. Selbststigmata findet man auch oft bei psychischen Erkrankungen. Sie können die Gesundheitssituation weiter verschlechtern, weil Betroffene dann zögern, Hilfe aufzusuchen.

Wie ist der Zusammenhang von Stigmata und Gesundheit?

Wenn Stigmata zu Diskriminierung führen, wenn Menschen also anders behandelt werden, weil sie ein bestimmtes Merkmal haben, dann kann das auch ihre Gesundheit beeinflussen. Wir konnten beispielsweise für Thüringen zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit wahrgenommener Diskriminierung und dem Wohlbefinden gibt: Je mehr Diskriminierung Menschen erleben, desto stärker ist ihre Lebensqualität eingeschränkt und desto mehr psychosomatische Symptome sind nachweisbar. Der Befund hat sich auch in der Studie mit Menschen mit HIV gezeigt. Diskriminierung ist ein chronischer Stressor und er entsteht komplett aufgrund gesellschaftlicher Bilder und Normalitätsvorstellungen. Wir müssen uns klar machen, dass sich das negativ auf die Gesundheit auswirken kann. Stigmatisierung ist ein Public-Health-Problem.

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