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Dinos, Autos und ein überholtes Gesundheitssystem

Seit Jahren versuchen wir im Gesundheitswesen aus dem Dinosaurier-Zeitalter ins Zeitalter der Mobilität zu kommen, sagt der Digital-Blogger Artur Olesch in einem Essay.

Ein Dinosaurier und ein Rennwagen sind zu sehen. Der Dinosauerier steht für das aktuelle Gesundheitssystem

Artur Olesch ist Journalist und bloggt zu Themen rund um Digital Health auf seiner Seite  "about Digital Health" 

Grafik: Artur Olesch

Am Anfang stand das Chaos. Im Gesundheitswesen ist es immer noch da.

 

A steht für das, was wir jetzt haben: ein altmodisches, konservatives Gesundheitssystem. Ein Zeitalter des Mesozoikums im Vergleich zur modernen Ära in anderen Industriebranchen. Im besten Fall ist es ein System mit elektronischen Gesundheitsakten, die immer noch in Silos liegen und nicht mit anderen Ärzten ausgetauscht werden können. Im schlimmsten Fall handelt es sich trotz Computern um ein papierbasiertes Modell, das rundum ineffizient ist. Es ist eine Art „Vermutungs-Medizin“, weil kein Arzt und keine Ärztin sich an die Daten von Tausenden von Patient:innen erinnern kann. „Dr. Quinn und House” sind Fernsehserien, nicht die Realität.

 

B ist das, wovon wir träumen: eine gut organisierte Gesundheitsversorgung durch Digitalisierung und Automatisierung. Eine Medizin, die mit dem Zeitalter des Holozäns Schritt hält. Manche wollen sie vorausschauend, personalisiert, präventiv und partizipativ. Andere erwarten, dass sie einfach zu bedienen ist, wie ein iPhone. Gesundheit für alle statt der Hölle für Patient:innen, die gegen die Krankheit und ein krankes System kämpfen müssen.

 

Das Problem ist, dass A und B etwa 245 Millionen Jahre auseinander liegen. Die Zeit zwischen dem Mesozoikum und heute, wo Homo sapiens eine menschenähnliche Gesundheitsversorgung erwartet, statt eines Dschungels voller gefährlicher Pfade.

 

Die Analogie des Gesundheitssystems als Dinosaurier und der digitalen Gesundheit als Autoteile, die zusammengesetzt werden müssen, stammt vom Deutsch-Israelischen Gesundheitsforum für Künstliche Intelligenz, an dem ich kürzlich teilnahm. Eine Veranstaltung, von der eine zentrale Botschaft ausging: Habt den Mut und die Entschlossenheit, das alte Gesundheitssystem in den Ruhestand zu schicken.

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Ran Balicer, CEO von Clalit Health Services (Israel), zeichnete die herkömmlichen Gesundheitssysteme als Dinosaurier. Daran wäre nichts auszusetzen – Dinosaurier sind liebenswerte Tiere, zumindest die Pflanzenfresser –, hätte der Meteorit nicht den Spaß verdorben. Auch wenn sie am Nachthimmel klein erscheinen – einige Meteoritenbrocken werden verheerend sein: die alternde Bevölkerung, der Mangel an medizinischem Personal, die wachsenden Patient:innenbedürfnisse und steigenden Gesundheitskosten, die sich gleichwohl nicht in besseren Behandlungsergebnissen niederschlagen.

 

Dass die analoge Gesundheitsversorgung überhaupt noch irgendwie funktioniert, liegt vor allem am Engagement des medizinischen Personals, dessen Zahl schrumpft. Und es liegt an dem Heuhaufen Geld, der nötig ist, um die alte Kreatur zu ernähren. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach medizinischen Leistungen. Jeder Grundschüler kann vorhersagen, wie sich das entwickeln wird.

 

Es handelt sich also um eine schleichende Apokalypse, und mit der Zeit haben wir uns daran gewöhnt (oder aufgehört, nach oben zu schauen, wie in der Netflix-Hitserie „Don't Look Up“). Beim Klimawandel haben wir das schon seit Jahrzehnten getan. Aber im Gesundheitswesen haben wir keine Greta, sondern nur ausgebrannte Ärzte und frustrierte Patient:innen, die es aufgegeben haben zu protestieren.

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Technologien können helfen. Wearables zeichnen Vitalparameter auf, um frühe Anzeichen von Krankheiten zu erkennen, und geben uns so die Kraft der Prävention zurück. KI blickt in die riesigen Datensätze, um Menschen zu diagnostizieren, zu behandeln und gesund zu halten, während Ärzte sich endlich mit ihren Patienten zusammensetzen, ihnen zuhören und ihnen ein gutes Wort sagen können, das sie so dringend brauchen. Stellen Sie sich vor, das Geräusch einer Tastatur wird durch ein Gespräch ersetzt.

 

Klingt gut, aber Technik ist nicht nur Technik. Sie ist eine Veränderung und der Mensch verändert sich nicht gern. Dinosaurier waren nicht intelligent genug, um eine Rakete ins All zu schicken und den Meteor zu sprengen. Wir schon. Und wir haben vor kurzem ein tragisches Erwachen erlebt, das uns gezeigt hat, dass wir nicht so weitermachen können, als sei alles in Ordnung.

 

COVID-19 verursachte eine „Tech-Beschleunigung“, so Prof. Dr. Ronni Gamzu, CEO des Tel Aviv Sourasky Medical Center (Israel). Die Pandemie rüttelte an alten Gewohnheiten, die uns daran hinderten, das Gesundheitswesen technologisch zu reformieren: eine grundlegende Skepsis, die Kultur der Datensilos, das Daten-Zuvielschutz-Syndrom (Daten retten Leben - Debatten und moralische Urteile nicht), mangelnde Motivation (früher war alles besser), die Narrative der Skeptiker (Technologie wird die Medizin entmenschlichen – als ob sie nicht schon entmenschlicht genug wäre), Vorschriften, Fragmentierung.

 

Fragmentierung hat viele Gesichter: Datenfragmentierung, Fragmentierung der Standards, Fragmentierung in Digitalisierungsstrategien, Fragmentierung in Technologien.

Räder des Wandels

Wir sind schon so gut in der Medizintechnik. Und wir haben geglaubt, dass sie uns von A nach B bringt und die Gesundheitsversorgung mit einem Fingerschnippen regelt. Das ist eine Illusion. Einzelne Autoteile machen noch kein Auto. Die Räder, Schrauben, der Motor, die Sitze und die Karosserie nebeneinander gestapelt bringen uns nicht dorthin, wo wir hinwollen.

 

"Isolierte Innovationen – egal wie toll all diese Apps, Wearables, EHRs und KI-basierten Systeme sind – werden uns nicht zu dem Wandel bringen, den wir wollen", so Dr. Susanne Ozegowski, Generaldirektorin für Digitalisierung und Innovation, Bundesministerium für Gesundheit (Deutschland).

 

„Und sie müssen perfekt zueinander passen, wenn es robust, sicher, vertrauenswürdig, komfortabel und attraktiv für die Insassen des Autos sein sollen", ergänzt Prof. Dr. Sylvia Thun, Leiterin der Core Facility digitale Medizin und Interoperabilität an der Charité Berlin. Ja, das ist das Zauberwort: Interoperabilität.

 

Wir brauchen eine Strategie, ein Benutzerhandbuch, um die Zukunft der Gesundheitsversorgung zu gestalten. Und dann müssen wir all die technischen Einzelerfindungen zu einem Gesamtsystem verschmelzen, Schritt für Schritt. Das wird den Weg zu einer personalisierten, patientenorientierten, wertorientierten und prädiktiven Gesundheitsversorgung öffnen.

 

Dazu bedarf es nicht nur einer guten Technologie, sondern auch eines eng verknüpften Teams aus Start-ups, Politiker:innen, Innovator:innen, Ärzt:innen, Pflegenden, Gesundheitsmanager:innen und Patient:innen, die zusammenarbeiten, neue Dinge ausprobieren, scheitern und Erfolg haben – ein Team, das durch eine gemeinsame Mission und harmonisierte, statt konkurrierende Geschäftsmodelle vereint ist.

 

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Eine gute und eine schlechte Nachricht zum Schluss: Es wird keinen Urknall geben, keine plötzliche Störung, kein unerwartetes Aussterben der Dinosaurier und kein Wunder, das von Big Tech vollbracht wird. Dies ist ein utopisches Märchen von Technologiegläubigen, hübsch verpackt mit Logos von Amazon & Co. Die Geschichte ist so schön, weil sie frei ist von so langweiligen Dingen wie Interoperabilität, Ethik und Werten.

 

Ich würde mich gerne irren, aber die Kernfusion wird nicht alle Energieprobleme auf einen Schlag lösen -–und auch Amazon Care, Apple Care, Google Care, Netflix-Care, Meta Care, Tencent Care, Alibaba Care oder Name-It-Youself Care werden das kaputte Gesundheitswesen nicht retten.

 

Der Gesundheitssektor ist der größte Arbeitgeber weltweit, ein Labyrinth – manche nennen es ein Ökosystem aus Politik, Kooperationen, Interessen, Versicherern, Geräten, Medikamenten, Krankenhäusern, medizinischem Personal und Einrichtungen, die die komplexeste Dienstleistung der Welt erbringen: Gesundheit und Wohlbefinden. Dabei sind sie immer sehr individuell, was die Erwartungen angeht, aber noch nicht bei der Erbringung.

 

Die Dinosaurier sind noch stark, aber der Wunsch nach einer schnellen Fahrt wächst. Spoiler: Autos gehen kaputt und die Straßen können holprig sein.

 

Wenn Sie mehr über die GIHF-AI Konferenz 2022 lesen möchten, klicken Sie hier: click here to download (for free) a post-conference report.

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