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Krebsprävention: „Wir müssen dringend etwas tun“

Hannah Heikenwälder Krebspräventiion

Frau Heikenwälder, jeder zweite Mensch erkrankt im Laufe seines Lebens mindestens einmal an Krebs – warum sind das so viele?

Krebs entsteht durch bestimmte Vorgänge in unseren Zellen, die wir nicht verhindern, aber deutlich mitbestimmen können. Das ist ein jahrzehntelanger Prozess, der in jedem Menschen abläuft. Von Autopsien ist bekannt, dass nahezu jeder Mensch zum Zeitpunkt seines Todes einen oder sogar mehrere zu Lebzeiten unentdeckte Tumore oder Krebsvorstufen aufweist. Krebs ist genau genommen keine Frage des „ob“, sondern eine Frage des „wann“ und „wo zuerst“.

Wie genau entsteht Krebs?

Nur etwa fünf bis zehn Prozent aller Krebserkrankungen werden durch angeborene genetische Veränderungen verursacht. Die anderen 90 bis 95 Prozent der Erkrankungen gehen auf genetische Veränderungen zurück, die wir erst im Laufe unseres Lebens erwerben. Wobei unser Bild, dass eine Zelle mutiert und dann Krebs entsteht, nicht ganz korrekt ist.

Warum?

Eine Zelle muss mindestens fünf bedeutende genetische Veränderungen ansammeln, so genannte Driver-Mutationen, um alle verschiedenen Kontrollinstanzen des Körpers zu überwinden. Dass es bei der Zellteilung zu genetischen Veränderungen kommt, ist normal, die meisten sind harmlos. Der Körper versucht, solche Veränderungen mit Reparaturenzymen zu beheben. Gelingt dies nicht, setzt eine Art zellinternes Wachstumsstopprogramm ein – die Zelle hört auf sich zu teilen. Sie stirbt dann entweder ab oder wird vom Immunsystem aussortiert. 

Befindet sich die geschädigte Zelle nun aber in einer besonders wachstumsfördernden Umgebung, stirbt sie eben nicht und kann sich weiter vermehren. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn zu viele Wachstumshormone wie beispielsweise Insulin vorhanden sind, was durch einen dauerhaft erhöhten Blutzuckerspiegel begünstigt wird. Auch das Hormon Östrogen wirkt wachstumsfördernd, das vor allem in Fettgewebe produziert wird. 

Und solche Wachstumstreiber von Krebs hängen mit dem Lebensstil zusammen?

Genau, das sind sogenannte Krebsförderer, die in der Regel viel kritischer sind als so genannte Karzinogene, Krebserreger. 

Was genau ist der Unterschied zwischen Krebserreger und Krebsförderer?

Krebserreger sind Substanzen, die genetische Veränderungen in Zellen in Form von DNA-Mutationen oder Brüchen verursachen – etwa Alkohol, Nikotin, zu viel UV-Strahlung oder die chemischen Verbindungen, die beim starken Erhitzen von Lebensmitteln entstehen. Als Krebsförderer bezeichnet man alles, was das Wachstumsverhalten und Überleben von Zellen mit genetischen Schäden beeinflusst: Chronische Entzündungen im Körper, Übergewicht, zu hohe Insulinlevel oder Sexualhormone wie Östrogen, die wachstumsfördernd auf Brustepithelzellen wirken … Letzten Endes sind die Krebsförderer ausschlaggebend dafür, wie stark und schnell sich mutierte Zellen vermehren können und wann, oder ob überhaupt, eine Krebserkrankung zu Tage tritt. 

Deshalb sollten sich auch Menschen, die noch keine Krebsdiagnose haben, mit dem Thema beschäftigen. Epidemiologische Daten und Hochrechnungen zeigen, dass in Zukunft genau solche Krebsleiden die Oberhand gewinnen werden, die nach heutigem Kenntnisstand vermeidbar wären. Wir müssen also dringend etwas tun.

Wenn so viel Wissen zur Krebsentstehung da ist, wieso haben wir nach wie vor so hohe Fallzahlen?

Weil es uns bisher nicht gelungen ist, dieses Wissen verständlich zu kommunizieren. So überschätzen viele Menschen beispielsweise Karzinogene und unterschätzen den Einfluss von Krebsförderern wie mangelnde Bewegung oder ungünstige Ernährung. Wir müssen also viel mehr erklären und auch entsprechende Angebote schaffen, um die Bemühungen des Einzelnen zu unterstützen. Am Arbeitsplatz, und noch viel wichtiger: in den Schulen. 

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt eine Stunde Bewegung am Tag für Kinder. Warum macht man das nicht morgens in der ersten Stunde? Es muss ja kein benotetes Bockspringen sein, ein bisschen Fußball draußen im Schulhof, freie Laufrunden oder Klettern, was den Kindern eben Spaß macht. Das wirkt sich auch positiv auf Herzgesundheit, den Bewegungsapparat, Stressbewältigung und Konzentration aus – und braucht keine zusätzlichen Lehrkräfte.

Kommen wir zu den Krebstherapien: Hier gab es große Fortschritte. Nehmen sie dem Krebs den Schrecken?

Das muss man sehr ausgewogen betrachten: Natürlich ist es gut, wenn wir Menschen mit neuen Therapien helfen können, bei denen wir noch vor 20, 30 Jahren keine Chance gehabt hätten. Doch wenn wir uns auf die verbesserten Therapien verlassen, übernehmen wir gerade nicht die dringend nötige Eigenverantwortung für unsere Gesundheit. Unser stärkster Verbündeter ist und bleibt unser Immunsystem. Es ist mikroskopisch klein, kommt in jeden Winkel unseres Körpers und kann ganz gezielt angreifen. Das kann keine Krebstherapie und sie ist auch niemals der einfachere Weg. 

Aber wenn es sie braucht, wie sieht die Krebsmedizin der Zukunft bestenfalls aus?

Die Therapie der Zukunft wird viel stärker personalisiert sein, sprich auf genetische Besonderheiten des jeweiligen Tumors und andere wichtige Faktoren wie Begleiterkrankungen abgestimmt sein. Im besten Fall werden wir künftig Patient:innendaten weltweit vergleichen. Dann kann man in internationalen Datenbanken abrufen, welche Behandlungen bei Patient:innen mit vergleichbaren Voraussetzungen wie angeschlagen haben. 

Das Deutsche Netzwerk für personalisierte Medizin (DNPM) ist dabei, solche Daten für Deutschland zu sammeln. Es existieren bereits Zentren für personalisierte Medizin, beispielsweise das ZPM in Tübingen. Inzwischen werden im ganzen Bundesgebiet weitere nach diesem Modell aufgebaut. Krebsmedizin heißt hier auch, dass ein interdisziplinäres Expert:innen-Tumorboard für jeden Patienten und jede Patientin die bestmögliche Therapie auswählt. 

Könnte man auch die Prävention personalisieren?

Unbedingt – das muss kommen. Es wird für jeden Menschen anhand seines Lebensstils, Vorerkrankungen und bestimmten Biomarkern ein persönliches Risikoprofil erstellt werden. Großes Potential sehe ich in der sogenannten Liquid Biopsy, mit der im Blut Tumorzellen oder ihre Erbgutabschnitte nachgewiesen werden können. 

Noch ist diese Flüssigbiopsie nicht ganz ausgereift, aber in Zukunft könnte sie zur Früherkennung von Krebs eingesetzt werden. Wenn man dann weiß, dass jemand ein erhöhtes Risiko trägt, kann man eingreifen, bevor teure Behandlungen fällig werden, die nur noch lindern, aber nicht mehr heilen können. Das wird oft eine Änderung des Lebensstils beinhalten. Prävention ist damit dann eine Therapie – und zwar die einzig rechtzeitige.   

 

  

Hannah Heikenwälder

Dr. Hanna Heikenwälder ist Krebsforscherin und Wissenschaftsautorin.  

Zuletzt erschienenen von ihr diese beiden Bücher: 

Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder: Der moderne Krebs. Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko. Springer 2023.

 

Hanna Heikenwälder: Der Himmel ist nicht genug – Wissenschaft ist die beste Religion.Springer 2023

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