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Medizin der Zukunft: „In fünf Jahren wird die fühlende Prothese Realität sein“

„In fünf Jahren wird die fühlende Prothese Realität sein“

Prof. Dr. med. Gunther Felmerer ist Leitender Arzt Plastische und Ästhetische Chirurgie an der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie der Universitätsmedizin Göttingen.

Eine Prothese mit Gedanken steuern – das geht schon. Mit der Prothese richtig fühlen, daran tüftelt die Forschung. Etwa 60.000 Menschen jährlich müssen sich einer Amputation unterziehen. Wie sie dann versorgt werden können und welche technologischen Sprünge vor der Tür stehen, berichtet der Göttinger Plastische Chirurg und Handchirurg Gunther Felmerer.

In aller Kürze:

Das ist heute bereits möglich:

Mit den modernsten myoelektrischen Prothesen lassen sich Gliedmaßen des Armes und der Hand bewegen.

Das bringt die Forschung in Zukunft:

Alle Bewegungen des Armes und der Hand komplett zu imitieren – in feinmotorischer Hinsicht. Und bei alldem das Gefühl von außen an den Körper wieder hinzuleiten.

 

Herr Prof. Felmerer, wer heute eine Armprothese braucht – was kann er oder sie erwarten?

Wir können heute hochwertige Materialien mit 3D-Druck individuell maßgeschneidert an die Stümpfe anpassen lassen. Wir haben also ein sehr hohes Niveau der Materialforschung und -wissenschaft.

Das heißt, der 3D-Drucker ist bei der Prothesenherstellung schon Standard?

Vielleicht noch nicht flächendeckend, aber in einigen in High-Tech-Sanitätshäusern in Deutschland definitiv.

Wie ist es um die Technik in diesen Prothesen bestellt?

Das ist ebenfalls High-Tech. Hier haben wir stabile und kräftige Mikromotoren zur Verfügung inklusive Hochleistungsakkus, die den Patientinnen und Patienten eine elektrische Steuerung ihrer Prothesen ermöglichen. Das erleichtert ihren Alltag. Und wir haben modernste Mikroprozessortechnik, die diese Motoren steuert und von außen den Zugriff auf die Prothesen über kabellose Verbindungen – zum Beispiel über Bluetooth – ermöglicht. So dass wir Prothesen über Software von außen programmieren können.

Nun hört und liest man viel über die Steuerung dieser Prothesen mit Gedanken. Sind das pure Visionen?

Nein. Gedankensteuerung heißt: Die Patientinnen und Patienten denken, ich bewege jetzt meinen Arm. Genau, wie sie das vorher getan haben. Und diese Gedanken werden übersetzt in Bewegungen der Prothese. Da bedienen wir uns eines Tricks. Meist haben die Patienten unten am Armstumpf durchtrennte Nerven, die die Signale vom Gehirn zur Steuerung der Hand geleitet haben. Wir nehmen nun diese Nerven und setzen sie an noch vorhandene Muskeln des Stumpfes oder Oberarms auf. Dort wachsen sie wieder ein. Und jetzt kann man von diesem Oberarmmuskel über eine Elektrode ein Signal für die Bewegungen der Prothesen ableiten. So lässt sich beispielsweise eine Handbewegung steuern. Die Patientinnen und Patienten müssen nicht mehr kompliziert umdenken wie bislang, dass sie sagen: Ich muss die Schulter hochziehen, um eine Hand- oder Ellenbogengelenksbeugung zu machen. Sondern sie denken sich zum Beispiel: ‚Hand auf‘ oder ‚Hand zu‘. Und tatsächlich werden diese Informationen dann auch umgesetzt.

Ist diese Technik auch schon in Deutschland Praxis?

Ja, das wird in Duisburg gemacht und bei uns an der Universitätsmedizin Göttingen.

Was hieße das beispielsweise für die Bewegungsfähigkeit mit einer Prothese vom Ellenbogen abwärts?

Mit den modernsten myoelektrischen Prothesen lässt sich tatsächlich der Ellenbogen beugen und strecken. Auch die Hand lässt sich von außen und nach innen drehen – und die Faust auf- und zumachen.

Und Greifen?

Greifen geht auch, aber ich kann noch nicht einzeln mit den Fingern greifen. Nur eine komplette Greifbewegung zum Beispiel der vier Langfinger gegen den Daumen. Die Finger sind allerdings schon so feinfühlig, dass ich eine Weintraube aus einem Gefäß nehmen und sie in ein anderes reinlegen kann. Ohne die Traube zu zerquetschen. Das ist sehr faszinierend.

Da hat die Zukunft ja längst begonnen …

… Sie ist ein Stück weit da. Was noch fehlt, ist die Perfektionierung. Und was uns auch noch fehlt, ist die Gefühlsachse. Wir möchten gerne eine Signalübertragung von der Prothese zum Gehirn der Patientinnen und Patienten, die sogenannte fühlende Prothese. Da gibt es zwar Entwicklungen, aber das ist noch relativ rudimentär ausgeprägt. Wir hätten gerne eine Oberfläche an der Prothese, zum Beispiel an der Hand, die die Signale an die Nerven und das Gehirn weitergibt, die sie empfängt. Alle Bewegungen des Armes und der Hand komplett zu imitieren, das ist die Vision. Einerseits die perfekte feinmotorische mit ganz sanften Bewegungsabläufen. Und andererseits das große Thema: Das Gefühl von außen an den Körper wieder hinzuleiten.

Vor welchen Herausforderungen steht die Forschung dabei?

Sie muss sich besonders mit der Schnittstelle Mensch-Prothese weiter befassen: Dass die Übersetzung der Nervensignale in Signale zur Steuerung der Prothesen weiter optimiert wird. Wir müssen also einerseits die Software-Ebene weiter entwickeln und andererseits die direkte mechanische Interface-Ebene verbessern, das heißt, die Ableitung der Signale vom Körper und den Durchtritt vom Körper in die Prothese. Es gibt schon Forschungsansätze, dass man Kapseln in die Muskulatur einpflanzt, und diese steuern über Bluetooth die Prothese. Leider können sich diese Kapseln noch verlagern. Und andererseits müssen sie über Induktion noch andauern aufgeladen werden. Es ist also noch nicht ausgereift. Wir haben außerdem das Problem, dass wir nicht direkt an den Nerv herangehen können mit einem sehr differenzierten Interface. Wir haben nur die Möglichkeit, relativ grob Nervensignale direkt im Körper abzuleiten. Und auch dann haben wir wieder das Problem, dass ein Kabel durch den Körper durchtreten muss. Und an der Stelle kann es Infektionsprobleme geben.

Welche Lösungsansätze gibt es für die Zukunft?

Langfristig hoffen wir, diese Signale zur Steuerung der Hand direkt vom Gehirn ableiten zu können– ähnlich wie die Ableitung von Nervensignalen mit einem EEG. Und so die Prothesen kabellos über Funk anzusteuern. Da laufen schon Versuche.

Was glauben Sie, wann wird es mit derlei Prothesen möglich sein, dass Armamputierte zum Beispiel ihr Frühstücksei wieder pellen können?

Von dieser Situation sind wir vielleicht fünf bis sieben Jahre entfernt.

Nur?!

Wir sind immer wieder selbst überrascht, wie rasch die Technologie in unserem Feld voranschreitet. Und das geht nur dadurch, dass die Ingenieure und Mediziner eng zusammenarbeiten und kommunizieren. Interdisziplinarität ist extrem wichtig. Hier geht alles über ein Team aus Ingenieuren, Informatikern, Medizintechnikern, Chirurgen, Orthopäden, Physio- und Ergotherapeuten. Denn auch die Nachbehandlung ist ja auch ganz wichtig.

Wann erhalten Betroffene solch eine Prothese, gibt es bestimmte Voraussetzungen?

Ein wichtiger Punkt ist die Motivation der Patientinnen und Patienten. Denn das Ganze braucht ein jahrelanges Training und eine Anpassung. Man kann nicht einfach die OP machen, den Patientinnen und Patienten Prothese mitgeben und erwarten, dass es von Anfang an funktioniert. Betroffene müssen regelmäßig trainieren. Im Allgemeinen ist die Technologie aber bei den meisten der armamputierten Patientinnen und Patienten machbar. Bei Beinprothesen ist es anders, da steht die ja statische Belastung mehr im Vordergrund. Da haben wir die Technologie bisher nur eingesetzt zur Schmerzbekämpfung. Aber: Die Forschung arbeitet daran, belastbare HighTech-Prothesen zu entwickeln, um auch eine Sprunggelenks- oder Kniebewegung zu steuern.

Wie stellt sich dieser Fortschritt aus der Kosten-Nutzen-Perspektive dar?

Erfreulicherweise sind in Einzelfallentscheidungen bei der Erstattung möglich. Damit haben wir die die ersten Fälle erfolgreich versorgt durch Zusagen der berufsgenossenschaftlichen Versicherungen. Denn das Verfahren ist sinnhaft, weil diese Prothesen zusätzlich langfristig die Schmerzen der Patienten lindern. In der Regel wird das übernommen, wenn die Patienten geeignet sind. Und wir hatten auch schon eine Kostenzusage von einer Gesetzlichen Krankenkasse. Je bekannter die Versorgung mit diesen HighTech-Prothesen wird, desto leichter werden langfristig diese Entscheidungen, davon bin ich überzeugt. In Zukunft könnte durch Verbesserung der Prothesen und High-Tech-Operationen Patienten wieder an ihren alten Arbeitsplatz integriert werden, wie dies in Einzelfällen auch heute schon mit Gedanken-gesteuerten Prothesen gelingt. Dies wird sich dann auch volkswirtschaftlich bemerkbar machen und die Investition in die Gesundheit und Rehabilitierung der Patienten ermöglicht diesen ein Leben mit nur wenigen Einschränkungen auf lange Sicht, die andernfalls auf langjährige Unterstützung angewiesen wären.

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