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" Viele Krebserkrankungen könnten vermieden werden.“

Krebsforscherin Dr. Hanna Heikenwälder

Die Hälfte aller Krebserkrankungen könnten nach Daten der Weltgesundheitsorganisation verhindert werden, würde man den aktuellen Wissensstand der Forschung umsetzen. Doch hat das neue Wissen noch nicht in die breite Praxis gefunden. Die großen Krebsförderer unserer Zeit werden weiterhin unterschätzt: Das sagen die Krebsforscher Dr. Hanna Heikenwälder und Prof. Mathias Heikenwälder vom Deutschen Krebsforschungszentrum und der Universität Heidelberg, die nun ein Buch über diese Erkrankung für Laien geschrieben haben*.

Frau Dr. Heikenwälder, wieso haben Sie für Nicht-Mediziner ein Buch über Krebs verfasst?

Dr. Hanna Heikenwälder: Als Krebsforscher werden mein Mann und ich auch privat oft um unsere Meinung gebeten. Dabei stoßen wir immer wieder auf falsche Einschätzungen. Da sind Menschen beispielsweise ganz pingelig mit einem angebrannten Toast, weil es krebserregend sein könnte, übersehen aber völlig, wie gefährlich Übergewicht, eine chronische Entzündung oder dauerhafter Bewegungsmangel für die Entstehung von Krebs sind. Oder sie denken, dass Krebs ohnehin eine angeborene Erkrankung ist, gegen deren Entstehung man nichts machen kann. 

Krebs ist aber sehr wohl eine genetisch bedingte Erkrankung …

… ja, das stimmt. Aber genetisch bedeutet nicht, dass alle Menschen, die Krebs bekommen, mit einer Krebs-Veranlagung auf die Welt kommen. Das sind nur etwa fünf bis zehn Prozent der Patienten. Bei den restlichen 90 bis 95 Prozent der Fälle wurden die genetischen Veränderungen, die zu Krebs führen, erst im Laufe des Lebens erworben. 

Wodurch?

Durch krebserregende Substanzen und insbesondere krebsfördernde Lebensumstände und Umwelteinflüsse. Die meisten dieser Substanzen, die Veränderungen in unserem Erbgut verursachen, sind Nebenprodukte unseres Stoffwechsels. Nur ein Bruchteil sind Gifte aus der Umwelt – wie beispielsweise Tabakrauch oder die chemischen Verbindungen, die beim hohen Erhitzen von Fleisch entstehen . Die Gefahr der Umweltgifte für die Krebsentstehung wird gemeinhin überschätzt, zumal die Mutationen allein keineswegs das zerstörerische Wachstum erklären können, wie Studien belegen. Denn die Schutzmechanismen unseres Körpers gegen mutierte und somit kranke Zellen sind sehr effektiv.

Warum bekommen dann trotzdem allein in Deutschland fast 500.000 Menschen jährlich eine bösartige Tumorerkrankung?

Das liegt in fast allen Fällen an Substanzen und Umwelteinflüssen, die nicht direkt Mutationen verursachen, aber das Wachstumsverhalten und Überleben von Krebszellen fördern. Diese „Krebsförderer“, wissenschaftlich Tumorpromotoren genannt, wirken meist dauerhaft auf unsere Körperzellen ein – auch auf solche, die bereits durch Mutationen vorgeschädigt sind. Somit verhindern sie das Absterben von vorgeschädigten Körperzellen und fördern deren Überleben und Wachstum. Damit geht von den Tumorpromotoren ein deutlich höheres Gefährdungspotenzial aus als vom vereinzelten Kontakt mit krebserregenden Substanzen, den so genannten Karzinogenen. So hat beispielsweise ein starker Raucher, der zusätzlich gerne hochprozentigen Alkohol trinkt ein 100-mal größeres Risiko an Krebserkrankungen des Mund-und-Rachenraums zu erkranken als ein Raucher, der keinen hochprozentigen Alkohol trinkt. Und das, obwohl der Rauch bis zu 60 verschiedene krebserregende Substanzen enthält, die unsere DNA schädigen können. Der Alkohol hingegen ist nicht in der Lage, Mutationen in unserer DNA zu verursachen. Hochprozentiger Alkohol bringt aber die oberste Zellschicht in unseren Rachenraum zum Platzen. Dadurch werden die tiefer liegenden Zellschichten zum Wachstum angeregt. Dieser krebsfördernde Effekt ist ausreichend, um das Krebsrisiko zu verhundertfachen.

Das heißt: Eine Genmutation allein ist nicht gefährlich. Erst dauerhafte Wachstumsförderer machen sie zur Gefahr?

Genau. Krebsförderer sind meist gefährlicher als Krebserreger. Wir wissen heute, dass Zellen ungefähr fünf bedeutende genetische Veränderungen erwerben müssen, um zu einer ernsthaften Gefahr für unsere Gesundheit zu werden. Selbst Menschen, die in ihrem Erbgut die Genmutation für eine bestimmte genetisch-bedingte Krebsform tragen, müssen nicht zwangsweise daran erkranken. Es braucht noch mehr. So lag beispielsweise das Erkrankungsrisiko für eine bestimmte Form des erblichen Brustkrebses vor 1940 bei 24 Prozent. Trägerinnen derselben Mutation, die nach 1940 geboren wurden, haben ein Erkrankungsrisiko von 67 Prozent. Die Autoren dieser Brustkrebs-Studie führen den Anstieg auf Bewegungsmangel und Übergewicht zurück1.

Was sind die wichtigsten Tumorpromotoren?

Starkes Übergewicht – darauf sind 14 bis 20 Prozent aller Tumorerkrankungen zurückzuführen. Dann Infektionen, die 18 Prozent der Krebsfälle verursachen. Und vor allem falsche Ernährung: 35 Prozent aller Tumorerkrankungen gehen darauf zurück. Hormone wirken ebenfalls krebsfördernd, genauso wie Stress oder dauerhafte Entzündungen, die eben durch falsche Ernährung und Lebensgewohnheiten ausgelöst werden. Vieles davon haben wir durch unseren Lebensstil selbst in der Hand. Aber viele Menschen wissen einfach nicht, dass man durch eine gesunde Lebensweise auch das Krebsrisiko deutlich senken kann.

Greifen wir uns den Punkt der Ernährung heraus, weil er zahlenmäßig herausragt. Was kann man tun, um sein Krebsrisiko zu senken?

Den Zuckerkonsum zu reduzieren, ist einer der wichtigsten Punkte. Zuviel Zucker erhöht das Krebsrisiko auf unterschiedliche Weise – zum Beispiel durch entstehendes Übergewicht. Auf Fertigprodukte mit vielen versteckten Zuckern zu verzichten, wäre besonders wichtig. Und wenn man schon etwas mehr Zucker konsumieren will, dann wird Bewegung umso bedeutender. Schon moderater Sport verändert den Zuckerstoffwechsel positiv und reduziert das Krebsrisiko. Jeder kann durch Veränderung seines Lebensstils Krebsprävention in eigener Sache betreiben. Körperliche Bewegung wirkt sich zudem positiv auf unseren Hormonhaushalt aus und wirkt der Entstehung von krebsfördernden Erkrankungen wie Diabetes entgegen.. Wer Kinder hat, sollte versuchen diese lange zu stillen. Wir wissen heute, dass Muttermilch sogar Immunzellen, Stammzellen und verschiedenste Abwehrstoffe enthält, die das Immunsystem des gestillten Kindes stärken. Dadurch kann sich das Kind vermutlich besser vor krebsverursachenden Infektionen schützen und das Immunsystem Tumorzellen besser bekämpfen.

Wenn so viel in unserer eigenen Hand liegt, dann liegt es nahe zu sagen: Wer Krebs bekommt, ist selbst schuld.

Krebs ist ein Zusammenspiel vieler Ursachen. Keiner hat es voll in der Hand, ob er an Krebs erkrankt oder nicht. Keiner ist schuld an seiner Erkrankung. Es geht nicht um „Schuld“, sondern darum, die Gefahren zu erkennen und zu verstehen. Zu wissen: Krebs entsteht oft über Jahrzehnte und kann durch unsere Lebensweise entscheidend beschleunigt oder verlangsamt werden. Wir können unser Risiko also deutlich senken. Die internationale Agentur für Krebsforschung schätzt, dass die Hälfte aller Krebserkrankungen verhindert werden könnten, wenn die Präventions- und Diagnosemöglichkeiten nach aktuellem Stand der Wissenschaft umgesetzt würden.

Was muss getan werden, um die Krebsprävention zu fördern?

Zum ersten müssen Ärzte ihre Patienten stärker über das neue Wissen der Tumorvorbeugung informieren – vor allem ihre übergewichtigen Patienten, die sie dadurch vielleicht effektiver motivieren können, gesünder zu essen und sich mehr zu bewegen. Zum zweiten sollten Kinder schon in Kindergärten und Schulen für die gesunde Lebensweise motiviert werden. Zum dritten sollten Hersteller verpflichtet werden, Zucker in Fertigprodukten stärker und deutlich sichtbar zu kennzeichnen. Das gilt übrigens auch für bestimmte Bindemittel wie Carrageen, die chronische, krebsfördernde Entzündungen verursachen können. Auch solche Label wie „fettfrei“ auf stark gezuckerten Lebensmitteln sollten abgeschafft werden, weil sie irreführend sind. Denn durch viel Zucker entsteht Fett im Körper, das durch Entzündungen und erhöhte Hormonwerte das Risiko beinahe aller Krebsarten steigert und insbesondere ein Risikofaktor für Leberkrebs ist.

Was wären wegweisende Projekte zur Krebsprävention?

Das Deutsche Krebsforschungszentrum Heidelberg plant gerade ein neues Präventionszentrum, in dem es auch eine Präventionsambulanz geben wird. Da kann dann jeder hingehen und sich über sein persönliches Krebsrisiko aufklären lassen kann. Wenn die Präventivberatung dann noch von den Krankenkassen übernommen würde, fände ich das super.

King et al. Science 2003 Breast and ovarian cancer risks due to inherited mutations in BRCA1 and BRCA2.

*Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder: Krebs. Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko. Springer-Verlag 2019

 

Dr. Hanna Heikenwälder studierte Molekularbiologie und Immunologie in Lübeck, den USA und an der ETH Zürich. Zurzeit erforscht sie an der chirurgischen Klinik der Universität Heidelberg die Rolle von Immunzellen bei der Entstehung von Pankreaskrebs und neue Ansätze der personalisierten Therapie. Ihr Mann Prof. Dr. Mathias Heikenwälder erforscht am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, wie chronische Entzündungen die Krebsentstehung und Metastasierung fördern.

 

Auf Wunsch der beiden Buchautoren weist die Redaktion darauf hin, dass Land der Gesundheit keine bezahlten Beiträge publiziert und dass Pfizer auch keinen Beitrag zum hier erwähnten Buch geleistet hat.

  1. Anonym

    Wie können aber dann schon kleine Kinder Krebs haben?

    vor 4 Jahren
  2. Dr. Hanna Heikenwälder

    Guten Tag, diese sehr interessante Frage haben wir in unser Buch in dem Kapitel "Alter und Krebs" diskutiert. Krebserkrankungen im Kindesalter stellen statistisch gesehen die Ausnahme dar. Wenn Kinder an Krebs erkranken, kommen häufig mehrere tragische Faktoren zusammen. Die Krebsentstehung bei Kindern wird weniger durch äussere Umwelteinflüsse gesteuert, sondern vielmehr durch Vorgänge innerhalb des Körpers. Häufig sind angeborene genetische Vorbelastungen im Spiel wie beispielsweise beim sogenannten Retinoblastom, einer Krebserkrankung der Netzhaut. Wird ein Kind mit einer genetischen Veranlagung für diese Krebsform geboren, kann es nur innerhalb der ersten 5 Lebensjahre zur Ausbildung der Krebserkrankung der Netzhaut im Auge kommen (danach ist die Netzhaut voll ausgebildet und ein Retinoblastom kann nicht mehr entstehen). Grund hierfür ist, dass im kindlichen Organismus das Wachstum und die Ausbildung der Gewebe selbst als potenter Krebsförderer wirken. So kommen bei Kindern beispielsweise Gehirntumoren relativ häufig vor, da die Nervenzellen in diesem Alter noch ein sehr starkes Vermehrungspotential besitzen. Die Auswertung der weltweiten Verteilung von Krebshäufigkeiten haben ergeben, dass Krebserkrankungen im Kindesalter in allen Regionen der Erde mit einer ähnlichen Häufigkeit auftreten. Dies weist auf eine Unabhängigkeit von äusseren Faktoren in. Viele Grüsse Hanna Heikenwälder

    vor 4 Jahren

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