Lesezeit: 6 min.

Warum fällt es so schwer, vorzusorgen?

Warum fällt es so schwer, vorzusorgen?

Warum fällt es so schwer, vorzusorgen ...

Was würde helfen?

... Frau Dr. Sandow?

Ärztin

„Wir bräuchten mehr Zeit für Überzeugungsarbeit“

Zehn Prozent meiner Patienten nehmen ihre Diagnose und die daraus nötig werdenden Verhaltensänderungen an. Die fragen auch aktiv: „Was kann ich tun?“, „Was kann ich verbessern, damit ich diese oder jene Tabletten nicht nehmen muss?“ Neunzig Prozent aber, die ich berate, ändern im Prinzip gar nichts. Denn das würde sie aus der Gewohnheit herausbringen – also aus dem, was ihnen Spaß und Freude bereitet. Wenn jemand etwa mehr Bewegung braucht, kann ich ihm nur eine Reha verschreiben; die Person selbst aber muss sich einen Ruck geben, um den Sessel Sessel sein zu lassen. Oder Zucker und Alkohol: So etwas schmeckt und belohnt das Hirn, stellt es zufrieden. Entspannt. Betäubt. Gegen diese Seelenpflaster sollen wir anreden? Ich versuche es. Aber wir Ärzte bräuchten dafür mehr Zeit, die Kassen räumen uns nur vier Minuten Gesprächszeit pro Patienten dafür ein … Da wird man schon ein wenig defätistisch und wundert sich, wenn jemand auf die Ratschläge tatsächlich eingeht! Es frustriert. Manche Ärzte gehen ja dazu über, zum Beispiel Rauchern zu sagen: „Solange du weiter schmökst, behandle ich dich nicht“ – aber das steht uns nicht zu, würden wir nicht alle behandeln, verstießen wir gegen den Eid. Und von den zehn Prozent Einsichtigen in meiner Praxis gibt es wiederum ein Drittel, welches recht extrem vorgeht. Die dann zu viel Sport betreiben, fast gar nichts mehr essen: Die müssen wir Ärzte dann auch einfangen.

Dr. Petra Sandow ist Allgemeinärztin in Berlin.

... Herr Veiel?

Regisseur

„Wir leben mitten in der Zukunft“

Der Mensch fürchtet sich vor Veränderungen. Wir halten lieber an Zuständen fest, die uns nicht herausfordern. Sonst müsste man sich neu orientieren – Disruption ist eben immer auch angstauslösend. Das macht Veränderungen mit Blick darauf, was für eine bessere Zukunft notwendig wäre, schwierig. Das, was nötig ist, wird nicht getan, weil es die Freiheit einschränkt. Mitunter wird das Gut der Freiheit absolut gesetzt: Jahrelang hat die Zigarettenindustrie versucht, Rauchverbote als Gängelung darzustellen, also als Einschränkung der Freiheit des Rauchers. Die Freiheit muss aber da enden, wo sie Rechte des anderen, in diesem Fall das Recht auf körperliche Unversehrtheit, verletzt. Wenn wir dieses Prinzip vom Körper des Einzelnen auf den Planeten Erde übertragen, heißt das: Wo dieser Planet beschädigt wird, endet die Freiheit, frei über ihn zu verfügen, auch wenn wir vermeintlich Eigentümer sind. Dann gilt: Eigentum verpflichtet. Es gibt ja das sogenannte „Fat-Tail-Phänomen“ – der dicke Schwanz kommt zum Schluss, es ist das „dicke Ende“, wenn wir nicht heute gegensteuern. Zumutungen werden auf jeden Fall auf uns zukommen! Seien es Krankheiten im Alter oder Folgekosten von Umweltverschmutzung. Es geht darum, den fetten Schwanz jetzt zu verschlanken, mitunter durch bittere Pillen. Vielleicht würde helfen, wenn wir uns konkrete Ziele setzen. Die würden Orientierung geben, wie zum Beispiel: In 2030 ist Berlin CO2-neutral. Punkt. Das ergäbe einen heilsamen Innovationsdruck. Denn die bisherige Unterteilung in Gegenwart und Zukunft greift zu kurz; wir leben mitten in der Zukunft.

Andres Veiel ist Filmregisseur (u.a. von Black Box BRD), Theaterregisseur, Autor und lebt in Berlin.

... Herr Hershfield?

Psychologe

„Schreiben Sie Ihrem künftigen Ich einen Brief“

Stellen Sie sich Ihren nächsten Geburtstag vor. Sie sehen wahrscheinlich Torte, Sekt und Kerzen. Stellen Sie sich jetzt Ihren Geburtstag in 20, 30 Jahren vor. Vermutlich haben Sie jetzt eine Beobachterposition eingenommen und sehen sich selbst – von außen. Das ist aufschlussreich: Wir betrachten unser künftiges Selbst wie einen anderen. Der US-Forscher Hal Hershfield* und sein Team konnten das sogar im Hirnscanner sehen: Dachten seine Probanden an ihr zukünftiges Ich, waren im Gehirn ähnliche Areale aktiv wie beim Nachdenken über eine andere Person. Je mehr das zukünftige Ich auf neuronalem Level einem anderen glich, desto weniger waren die Testpersonen bereit, noch etwas länger auf eine höhere finanzielle Belohnung zu warten. Was lässt sich also tun, um das künftige Ich besser zu behandeln? „Sie müssen es sich selbst näherbringen“, sagt Hershfield. Aus der Wohltätigkeitsarbeit sei bekannt: Die Leute spenden mehr, wenn sie lebendige Geschichten vor Augen haben. Anderes Beispiel: Als der beliebte US-Nachrichtensprecher Tim Russert vor einigen Jahren einem Herzinfarkt erlag, gingen plötzlich viel mehr Männer als sonst zum Herzcheck. Holen Sie sich also Ihr künftiges Ich in Ihr Leben: „Schreiben Sie ihm einen Brief“, rät Hal Hershfield. „Oder laden Sie sich ein Programm herunter, das Ihr Porträtbild künstlich altern lässt. Hängen Sie sich das an die Wand. Befragen Sie es, wenn Sie wichtige Entscheidungen treffen – dann treffen Sie womöglich die besseren Entscheidungen für Ihre Zukunft.“

*Hal Hershfield ist Außerordentlicher Professor für Marketing und Theorie der Verhaltensentscheidungen an der UCLA Anderson School of Management in Los Angeles.

... Frau Dr. Biendara?

Managerin Versicherung

„Wir brauchen Anreize, Belohnung, Information“

Wir fällen täglich eine Unmenge an Entscheidungen, bewusst und unbewusst – und deren Wirkungen sind oft nicht unmittelbar spürbar. Diese sekündlichen Entschlüsse können auch überfordern, da verschiebe ich Veränderungen in die Zukunft, während ich im Hier und Jetzt lebe. Fast die Hälfte der Deutschen hält ihren eigenen Gesundheitszustand für nur mittelmäßig oder eher schlechter. Viele wollen mehr für ihre Gesundheit tun. Aber die meisten schaffen es nicht oder nur kurz. Eine echte Veränderungsbereitschaft stellt sich meist erst mit Leidensdruck ein. Nach meiner Erfahrung zeigen Menschen mehr Umsicht, wenn sie aus dem Trott kommen, Außeralltägliches geschieht. Wenn sie eine schwere Krankheit überstehen, einem Unfall entgehen – aber auch eine Familie planen und Verantwortung übernehmen: Dann schauen sie mehr auf das, was ihnen guttut oder was sie vermeiden sollten. Wir sollten die Menschen viel mehr unterstützen, für ihre ­Gesundheit zu sorgen. Dazu brauchen wir Anreize und Belohnungen, aber vor allem auch stetige Information. Obwohl uns Gesundheit als positiver Wert an sich heute sehr bewusst ist, reagiert unser ganzes System weiterhin zuvorderst auf Schäden. Es fokussiert auf Krankheitsfälle und nicht auf deren Vermeidung.

Dr. Britta Biendara ist Gesundheitsökonomin und Kooperationsmanagerin beim Versicherungskonzern AXA in Berlin.

... Herr Deister?

Psychiater

„Angst wäre ein guter Ratgeber“

Es gibt ein Problem mit der Vor-Sicht: Für die Zukunft kann ich nur das wahrnehmen, wozu ich in der Gegenwart Erfahrungen sammle. Was machen wir also etwa mit einem Klimawandel, der langsam verläuft und wenig Rückmeldungen in der Gegenwart liefert? Das Gleiche gilt bei der Früherkennung von Krankheiten; es fällt den Menschen schwer, eine Darmspiegelung machen zu lassen, wenn sie keine Symptome und Beschwerden haben. Die reine Vorstellung, sie könnten irgendwann ein Problem kriegen, ist nicht so wirksam. Denn wir leben im Hier und Jetzt und reagieren am besten auf das, was wir sinnlich erfahren. Das stammt aus einer langen Menschheitsgeschichte, in der wir nur ans Überleben bis zum nächsten Tag dachten. Und wenn wir vor 30 000 Jahren in der Steppe auf ein gefährliches Tier stießen, dann konnten wir entweder kämpfen oder davonlaufen. Nur hatten diejenigen, die sich fürs Kämpfen entschieden, kaum mehr die Chance, unsere Vorfahren zu werden – sie wurden gefressen. Was die selektive Evolution uns Menschen mitgab, ist also das Davonlaufen. Unsere Herausforderungen von heute sind komplex. Angst wäre ein guter Ratgeber. Doch leider löst die Angst, die uns schützen kann, wieder anderes aus: dass wir vor Problemen mehr davonlaufen, als dass wir sie zu lösen versuchen. Wir haben es über lange Zeit nicht anders gelernt.

Arno Deister ist Psychiater, Psychotherapeut, Psychosomatiker und Neurologe. Er ist Past President der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

Wollen Sie namentlich in der Diskussion genannt werden?

Abonnieren Sie unseren Newsletter!