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Blick in die Zukunft: Wie wir von Science-Fiction lernen können

Blick in die Zukunft: Wie wir von Science-Fiction lernen können

Gedankenübertragung, Hybridwesen oder fühlende Prothesen: Die Zukunft ist unserer Zeit näher, als wir denken. Wieso es höchste Zeit ist, sich mit den technologischen Möglichkeiten von morgen zu befassen. Und was wir dabei von Science-Fiction lernen können. Ein Gespräch mit dem Science-Fiction-Autor und Politologen Dirk van den Boom.

Dr. Dirk van den Boom ist apl. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Münster und Autor von Science-Fiction-Romanen. 2017 gewann er den Deutschen Science- Fiction-Preis für den besten deutschsprachigen Roman.

Herr van den Boom, wie neugierig ist Deutschland auf seine Zukunft?

Nicht genug! Ich sehe viel zu wenige Blicke nach vorn, sondern mehr zur Seite.

Wir brauchen also mehr Science-Fiction?

Ja, denn die Science-Fiction zeigt sich offen auch für scheinbar ferne Technologien und Potenziale. In den USA nutzt man das: Dort werden zu Konferenzen über Technikfolgenabschätzung immer wieder Science-Fiction-Autoren eingeladen – auch bei Regierungsberatungsgremien. Unsere spezielle Sichtweise ist ein Denken „out of the box“, diese Perspektiven weit über den üblichen Horizont hinaus können hilfreich sein. Oft wird ja innerhalb eines Apparats weder links noch rechts geschaut, wir dagegen treiben einen Stachel ins Fleisch und lenken die Gedanken auf ganz anderes – ohne Begrenzungen auf Bürokratie, Budget und Gesetze. In den USA wird uns diese Rolle zugestanden, in Deutschland nicht.

Was wird denn übermorgen alles möglich sein?

Wir stecken in einem technologischen Umschwung, da merkt man oft gar nicht, wie ein Ereignis oder eine Erfindung gerade unser ganzes Leben verändert. Ich denke, dass wir gerade in solch einer Singularität leben. Schon heute merken wir ja: Durch die Corona-Forschung hat es einen unglaublichen Innovationsschub gegeben – mit immensen Konsequenzen für die Forschung zu Krebs und Demenz. Es ergeben sich Lösungsmöglichkeiten für Menschheitsplagen. Wie transformiert sich also eine Gesellschaft, in der wir die Sterblichkeit radikal verringern durch die Besiegung der meisten Krebsarten? Wie sieht unser Land aus, wenn ich mit 80 Jahren noch davon ausgehen kann, mental hellwach zu sein? Die Idee von einem „Ruhestand“ wird verschwinden, weil gerade die körperlichen Voraussetzungen für andauernde Produktivität geschaffen werden. Das wird derzeit aber überhaupt nicht diskutiert.

Warum sollten wir uns jetzt darüber Gedanken machen?

Weil diese Transformationen immer schneller ablaufen. Da riskieren wir, in unserer mentalen Entwicklung nicht mitzuhalten. Den Umgang damit müssen wir ja auch erlernen, da müssen wir unsere Taktzahl erhöhen. Nur kurz umrissen: In wenigen Jahren wird es die Möglichkeit von Hybridwesen aus Mensch und Tier geben – ist das ethisch vertretbar? Oder wie gehen wir mit der Aussicht auf völlig automatisierte Kriege um? Heute gibt es Kampfdrohnen als Nische, aber in zehn Jahren wird das keine Nische mehr sein; was heißt das für internationale Konflikte? Die Konsequenzen daraus müssen jetzt durchdacht werden. Und das tun z. B. wir Autoren von Science-Fiction.

Wie schafft man das – mehr vorhersehen?

Wir sollten vor allem systematischer und mit einer größeren Kompetenz Informationen verarbeiten. Erst dann wären wir in der Lage, eine Frage an die Zukunft zu stellen. Das ist übrigens die Stärke von uns Science-Fiction-Autoren: Wir stellen solche wichtigen Fragen, auch wenn wir oft Quatsch­antworten geben. Aber fragen – das kann man von uns lernen.

Was könnte Science-Fiction leisten?

Science-Fiction befreit sich erstmal von gewissen Begrenzungen des Denkens, wir lassen dem Geist einen wilderen Lauf. Nicht umsonst sind viele Naturwissenschaftler Fans – da können sie eine Menge rauslassen. Nicht wenige von ihnen wurden von Science-Fiction inspiriert und haben sich deswegen für eine wissenschaftliche Laufbahn entschieden. Übrigens traten in den 90ern des vorigen Jahrhunderts eine Menge Frauen in Amerika in den Polizeidienst, weil sie „Akte X“ mit Agent Scully geschaut hatten.

Einer, der sich viele Fragen stellt, Neugierde und Vision zeigt, ist Elon Musk. Warum wird er dennoch oft als bunter Hund belächelt?

Weil er zu einer Generation gehört, die versteht: Informationen müssen gut gemanagt und kommuniziert werden. Musk ist kein Wissenschaftler, er ist Unternehmer, zieht Talente für seine technologischen Visionen an. Er hat einen klaren Plan: den Menschen das Überleben auf dem Mars sichern, wenn sie hier auf der Erde Mist bauen. Ich folge ihm auf Twitter: Mit der Art und Weise, wie er jeden Tag von morgens bis abends mit dieser Vision nach außen tritt und zu seiner persönlichen Sache macht, seine Vision auf sich individualisiert und er seine eigene PR-Abteilung ist, gerät er zu dem, was manche einen bunten Hund nennen. Er ist authentisch.

Glauben Sie, dass er mit seiner Neuralink-Forschung und den Prognosen recht haben wird, dass wir bald Chips im Gehirn tragen werden?

Total. Für Science-Fiction ist das nicht neu: Im Subgenre des Cyberpunk ist dies schon vor 30 Jahren vorweggenommen worden. Es gibt aus vielen Laboren sehr ermutigende Forschungsergebnisse, dass blinden Menschen die Sehnerven stimuliert werden, dass Taube wieder hören und Menschen mit Lähmungen Roboterarme befehlen werden – über einen Chip im Kopf. Irgendwann werden wir dieses Interview nicht über einen Bildschirm führen, sondern gleich über unseren Chip in der Großhirnrinde online gehen und uns direkt austauschen.

Obwohl wir heute so viel wissen, kommen wir nicht ins Handeln – etwa bei Themen wie Klimawandel, Umweltbelastungen, Überbevölkerung. Warum ist das so?

Weil wir unser Wissen nicht ausreichend verarbeiten. Schauen Sie das Hin und Her der Politik beim Pandemiemanagement an. Die hört ja nicht so auf die wissenden Experten, wie sie sollte. Denen sollte mehr Grundvertrauen geschenkt werden, dann würde Wissen rascher ins Handeln kommen. Das andere ist, dass unsere komplexe Welt heute ein multidimensionales Management braucht, aber da stehen wir ganz am Anfang mit leider zu wenigen Elon Musks. Wir versuchen zu wenig zu verstehen, was überhaupt passiert – lieber bleiben wir auf den bisherigen Gleisen. Wir betrachten zu wenig und bilden uns zu schnell Meinungen.

Aber wie stellt man sich auf das Unvorhersehbare ein?

Das kann man nicht. Man kann nur seinen Verstand schulen, damit er offen bleibt.

Mangelt es uns an kreativem Denken?

Kreativität ist an Schulen und in Universitäten leider nicht vordringlich. Immer mehr Studierende kommen in der Politikwissenschaft auf mich zu und wollen genaue Vorgaben darüber, was sie zu tun haben. Es gibt aber keine Formel, nach der ich berechnen kann, wie ich ein gesellschaftliches Phänomen am besten beobachte. Unser Bildungssystem versagt an dieser Stelle. Wir sollten mehr phantasieren! Wissenschaft wird nicht als lebendiges und atmendes Konstrukt gelehrt, sondern es werden Fakten auswendig gelernt. Wofür dieses Wissen im späteren Leben angewendet werden kann, erzählt den Schülern niemand.

Sollten wir also in der Schule mehr Science-Fiction lesen und weniger Goethe?

Das wäre so schön. Es würde uns in die Lage versetzen, für einen Moment alle Beschränkungen dessen, was sein darf und kann, abzulegen. Es gäbe Raum für ungebundene Phantasie. Gegenwartsliteratur ist notwendigerweise den Begrenzungen ausgesetzt, die uns die Welt einmal gibt. Science-Fiction ist ein Vehikel zwischen völlig freier Kreativität, einer Imagination und der Rückführung auf das, was ist. Wir sollten auch in der Schule mehr phantasieren.

Bräuchten wir ein Zukunftsministerium?

Dies ist eine Querschnittsaufgabe. Die Fähigkeiten der Vorhersage brauchen wir in jedem politischen Bereich, sei es in der Wirtschaft, der Bildung oder der Außenpolitik. Ein Beispiel: Bei den großen Migrationsbewegungen von 2015 taten alle überrascht. Dabei hatten die deutschen Botschaften in ihren Lageberichten vorher gut beschrieben, was geschehen werde. Sie wurden bloß nicht richtig gelesen. Jedes Ministerium braucht eine Abteilung für Folgenabschätzung und Extrapolation, also das „Fortspinnen“ wissenschaftlichen Faktenwissens.

 

 

Illustration: Die Illustratoren

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