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Zukunft der Arzneimittelproduktion: „Abschottung bringt nicht mehr Sicherheit“

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Sind Lieferketten sicherer, wenn sie sich nur über Europa erstrecken? Oder geht es bei einer krisenfesten Arzneimittelproduktion um mehr als die Entfernung und die Überwindung von Ländergrenzen? 

Ein Gespräch mit dem Pharmazeuten Dr. Axel Glatz über die resiliente Versorgung mit Arzneimitteln. Er leitet das weltweit größte Produktionswerk für Tabletten und Kapseln von Pfizer mit Sitz in Freiburg.

Im Zuge der Covid-19-Krise heißt es, dass sich Medikamentenproduktion zu sehr in Abhängigkeit von asiatischen Lieferanten begeben habe. Wie sehen Sie das?

Dr. Glatz: Das gilt vor allem für die günstigen Generika, und hier vor allem die älteren. Viele Hersteller kaufen Wirkstoffe in China und Indien ein, weil die Produktion dort viel billiger ist als in Europa oder den USA. Für innovative, patentgeschützte Arzneimittel gilt das eher nicht. Wir bei Pfizer produzieren ohnehin alle Schlüsselwerkstoffe selbst, in eigenen Fabriken in Singapur, Irland, den USA und Puerto Rico.

Dennoch: Sollten Arzneimittel wieder mehr in Europa gefertigt werden, von Anfang an?

Unter den jetzigen Bedingungen rechnet sich die Herstellung günstiger Generika in Europa nicht. Das ist wie bei Sportschuhen oder Kleidung. Andererseits würden Hersteller auch gar keine Versorgungssicherheit schaffen, wenn sie ihre Arzneimittelproduktion jetzt zu hundert Prozent nach Europa verlagern würden. Im Gegenteil.

Warum?

Stellen Sie sich vor, wir bezögen eine Komponente aus nur einem Land und dann lege ein vierwöchiger Streik das dortige Leben lahm. Oder Sie hätten für eine Komponente nur einen soliden Zulieferer und dann ginge seine Schlüsselanlage kaputt. Oder ein Großbrand oder eine Krankheitswelle. Das sind alles reale Risiken, die wir in unserer Planung berücksichtigen. Wir produzieren hier jeden Tag 1,3 Millionen Medikamentenverpackungen für 153 Länder, darunter moderne Krebsmittel, Blutverdünner und eine ganze Reihe weiterer wichtiger Arzneimittel. Ein Produktionsausfall bei uns würde alle treffen. Produktion ist nur dann sicher, wenn man weltweite Lieferketten nutzen kann und Alternativen hat, so dass Waren und Material ungehindert fließen. Deshalb sind wir gegen Handelshemmnisse und Abschottung. 

Und wie muss eine derartige Lieferkette organisiert sein?

Vor allem muss das Netzwerk der einzelne Hersteller und Zulieferer stärker aufgefächert und am besten redundant organisiert sein. Wir müssen dafür sorgen, dass der Materialfluss nicht stockt: Wirkstoffe, Hilfsstoffe, Packmittel, Geräte und auch die dazugehörigen Spezialisten. Dazu braucht es offene Grenzen sowie Zweit- und Drittquellen. Moderne Industrie braucht diese Beweglichkeit.

Zu dieser Beweglichkeit gehört bislang auch die Just-in-time-Produktion: Angeliefertes Material wird direkt verarbeitet. Kann das krisenfest sein? Sollte man nicht mehr auf Lager produzieren?

Das sehe ich anders. Wir brauchen für die bereits genannten 1,3 Millionen Medikamentenpackungen am Tag jeweils fünf bis sechs Komponenten. Würden wir diese Teile nur zwei Wochen lang lagern, hätten wir 50 bis 100 Millionen Komponenten. Das können Sie kaum gewährleisten, finanziell wie räumlich. Wir sind auf Just-in-time oder sehr kurze Vorlaufzeiten angewiesen. Umso wichtiger sind die resilienten Lieferketten. Also ausreichend Alternativen zu schaffen für die Versorgung mit Schlüsselrohstoffen und Schlüsselpackmitteln.

Mit welchen Argumenten setzt sich ein deutscher Standort wie Ihrer im Wettbewerb um die beste Produktion innerhalb eines globalen Konzerns eigentlich durch?

Es gelingt uns durch Automation, die ständige Optimierung von Abläufen und über das hohe Produktionsvolumen. Die Kosten entstehen übrigens nicht nur durch die Löhne. Deutschland hat mit den höchsten Steuersatz, nachdem die USA die Unternehmenssteuern auf 20 Prozent gesenkt haben. Wir haben sehr hohe Umweltauflagen, einen hohen Dokumentationsaufwand und hohe Sicherheitsanforderungen. Hier in Freiburg arbeitet jeder fünfte Mitarbeiter in der Qualitätskontrolle. Gleichzeitig hat Deutschland mit die kürzesten Arbeitszeiten weltweit. In amerikanischen Werken wird etwa 25 Prozent länger gearbeitet, in asiatischen Werken 35 Prozent.

Was haben Sie selbst durch die Pandemie gelernt?

Ich wurde bestärkt in meiner Sicht auf ‚Resilienz einer Produktion‘. Sie sind immer im Zwiespalt: Wenn Sie bei einem einzelnen Lieferanten die Bestellmenge erhöhen, erhalten Sie bessere Preise. Mehrere Lieferanten werden teurer, geben aber Versorgungssicherheit. Covid-19 zeigt sehr eindrücklich, dass das Geld, das man in diese Absicherung investiert, gut angelegt ist. Unser Werk hatte bislang keinerlei Produktionsausfälle durch das Pandemiegeschehen.

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