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„Lasst die Daten sprechen“

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„Unser Gesundheitssystem ist in vielen Bereichen der Datenverarbeitung noch im Zustand des späten 20. Jahrhunderts“, sagt Professor Christof von Kalle,  Leiter des Klinischen Studienzentrums von Berlin Institute of Health (BIH) und Charité. Zum Zeitpunkt des Interviews war er Leiter der Abteilung „Translationale Onkologie“ am  Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg. Dort baut man für Krebspatienten eine Datenplattform auf, die Behandlungen verbessern soll. Dort wird auch eine elektronische Gesundheitsdropbox für Patienten entwickelt. Ein Gespräch.

Herr von Kalle, Krebsmedizin heißt heute auch, dass mehr und mehr Daten erhoben und ausgewertet werden können, etwa durch die Erbgutsequenzierung. Wird inzwischen das Erbgut jedes Krebspatienten komplett durchleuchtet?

von Kalle: Genetische Veränderungen liegen eigentlich bei jeder Krebsform, die wir bisher kennen, vor, und daher fragt man sich immer, ob nicht diese Veränderungen auch ursächlich für die Krebserkrankung sind. Deshalb werden bei mehr und mehr Patienten zumindest Teile, teilweise auch das gesamte Genom der Krebszellen und der normalen Gewebe durchleuchtet, also sequenziert. Das erzeugt große Datenmengen.

 

Ein weiteres Verfahren ist die Liquid Biopsy, auch da fallen große Datenmengen an ...

Die Idee der Liquid Biopsy ist, dass man alle Auf- und Abbauprodukte von Zellen auch im Blutkreislauf wiederfinden muss. Wenn ich Bruchstücke von Tumorzellen, von ihrer DNA, von ihren Eiweißen und andere Bestandteile im Blutstrom finde, habe ich beispielsweise Hinweise auf eine bestimmte Tumormutation, oder ich merke anhand der Zahl der Tumorzellen im Blut, ob eine Therapie gewirkt hat oder eben nicht. Auch da entstehen wertvolle Daten.

 

Sie versuchen, Patientendaten aus unterschiedlichen Quellen zu verbinden in einem so genannten Data There House. Was kann man sich darunter vorstellen?

Wir haben in unserem Gesundheitssystem viele verschiedene Datensysteme und Speicherbereiche, die wenig miteinander sprechen. Der Abgleich der dort gespeicherten Informationen geschieht, wenn überhaupt, über Text-Informationen: Ein Arzt oder eine Ärztin liest Berichte und dabei fallen ihm oder ihr bestimmte Informationen auf oder eben nicht. Wir wollen mit dem Data There House die vorhandenen Daten auf eine Ebene heben: Alle Datenpunkte zu einem Patienten liegen zeitgleich vor und können per Computer durchsucht und mit den Daten anderer Patienten verglichen werden.

 

Klingt naheliegend.

Ja, aber unser Gesundheitssystem ist in vielen Bereichen der Datenverarbeitung eher noch in dem Zustand des späten 20. Jahrhunderts. Computersysteme erbringen verschiedene Einzelleistungen, es fehlt ein gemeinsames übergreifendes Daten- oder Prozessmodell für die Patientenbehandlung wie es in anderen Industriezweigen schon sehr ausgeprägt ist. In der Luftfahrt, Fahrzeugindustrie oder im Maschinenbau bilden Computer die gesamte Prozesssteuerung ab – was auf verschiedenen Ebenen zu verschiedenen Zeitpunkten geschieht, kann in Echtzeit abgerufen werden. Im Gesundheitswesen beginnt man erst jetzt zu überlegen: Wie sieht eigentlich unser gesamter Prozess aus, wo sind die einzelnen Daten, und wie kommen sie miteinander in Verbindung?

 

Die Medizin ist im Vergleich mit den anderen Industriezweigen rückständig?

Die Medizin an und für sich nicht, aber der Datenprozess. Es gibt natürlich fortschrittliche Lösungen an einzelnen Stellen, aber wir können heute noch nicht davon sprechen, dass wir quer durch das Gesundheitssystem in der Lage sind, gute Datenauswertungen zu gewährleisten. Wir haben uns das in der Vergangenheit häufig als Datenschutz schön geredet.

 

Wir lassen Ressourcen im Namen des Datenschutzes außer Acht?

Ja. Stellen Sie sich vor, wie viele Systeme noch handschriftliche Notizen beinhalten. Akten in Krankenhausstationen oder Karteikarten der niedergelassenen Ärzte. Im günstigsten Fall kann wenigstens derjenige, der es geschrieben hat, es noch einmal lesen. Und dort, wo schon mit Computersystemen gearbeitet wird, haben wir den ganzen Wildwuchs unterschiedlicher Systeme, die dann auch wiederum nur sehr bedingt miteinander sprechen können. Da entsteht dann die groteske Situation, dass ein Text aus einem Computersystem ausgedruckt wird, der in einem anderen System eingescannt und dort als optische Texterkennung weiterverarbeitet wird. Wenn überhaupt.

 

Wenn man alle Daten austauschen und auswerten könnte, wenn jeder das gleiche Computersystem verwenden würde: Was wäre dann der große Vorteil? Was wäre sozusagen der Traum eines Krebsmediziners?

Zunächst einmal brauchen wir Systeme, die nicht erfordern, dass jeder exakt den gleichen Computer verwendet, sondern die verschiedenen Systeme müssen lernen, miteinander zu sprechen. Mein Traum wäre, dass keine Information mehr verloren geht. Dass wir Programme zur Qualitätskontrolle haben, die im Hintergrund mitlaufen wie ein Navigationssystem im Auto und erkennen, wenn wir eine Strecke, die wir gut zu kennen glauben, verlassen. Bis hin zu dem Punkt, dass wir durch Datenabgleich unseren Patienten helfen können. Dass wir nachschauen können, welche Erfolge eine bestimmte Behandlung bei den letzten zehn Patienten in Deutschland, in Europa oder auch nur in diesem Krankenhaus hatte. Solche Informationen haben Sie heute nur im Erfahrungsschatz des einzelnen behandelnden Arztes.

 

Wird in Zukunft der Computer die Therapie von Krebspatienten anhand von Big Data planen?

Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die Komplexität nach wie vor sehr groß ist. Dass auch die Patienten nicht möchten, dass das ausschließlich durch eine seelenlose Maschine geschieht. Aber als Entscheidungshilfe sind Computerprogramme wertvoll. Was ich auch extrem wichtig finde und womit wir uns hier am NCT beschäftigen, ist, dass wir Patienten selbst den Zugang zu ihrenDaten schaffen und sie dort Informationen einspeisen. Dass wir letzten Endes auch daraus lernen, was in der wirklichen Welt des Patienten passiert. In der Regel kennen wir nur die Studienpatienten, die in gewisser Weise eine optimierte, abstrakte Situation darstellen. Das sogenannte „real world outcome“ ist hochinteressant: Wie funktioniert eine Therapie beispielsweise bei Patienten, die viel älter und kränker sind?

 

Wie bringt der Patient diese Daten ein?

Unser Vorschlag ist eine Art Gesundheitsdropbox: Ein Datenraum, der im rechtlichen Sinne nur dem Patienten gehört, in dem all seine Untersuchungsberichte, Röntgenbilder, etc. drin sind, aber auch seine privaten Eintragungen. Er kann dann dem nächsten Arzt oder auch einer Forschungsstudie Zugang zu allen oder nur zu bestimmten ausgewähltenDaten gewähren.

 

Wäre das eine Art elektronische Gesundheitsakte?

Diese elektronischen Patientenakten sind nach wie vor Sammlungen von jemand anderem über den Patienten. In die Gesundheitsdropbox würde auch der Patient selbst schreiben, etwa auch Daten von seinen „wearables“, wie viel Kilometer Fahrrad er gefahren ist oder wie viel Treppen gestiegen.

 

Die Krebsmedizin ist Vorreiter in der Big-Data-Debatte, aber Datensammlungen spielen vermutlich auch für andere Krankheiten eine Rolle?

Ja, natürlich, das ist ein Thema, das sich quer durchs Gesundheitssystem zieht. Etwa, dass man Herzpatienten mit intelligenten Systemen überwacht, die rückmelden können, wenn es zu Rhythmus- oder Blutdruckproblemen kommt – da gibt es sehr schöne Studien aus Großbritannien. Oder dass man erkennt, wenn ein Diabetiker zu entgleisen droht, da haben die Schotten ganz wunderbare Daten: Wenn man den Insulinverbrauch und die anderen Krankheitssymptome, die der Patient angibt, zusammenbringt, lassen sich Hospitalisierungen und Todesfälle verhindern, weil solche Systeme dieses langsame schleichende Verschlechtern eines Patienten erkennen können.

 

Werden wir mit Hilfe der Navigation durch Big Data den Krebs besiegen können?

Das ist natürlich eine Hoffnung. Wir haben da ja gerade in den letzten fünf Jahren sehr schöne Erfolge gesehen und hoffen natürlich, dass wir nicht zuletzt auch durch die Verwendung von Computern weitere Erkenntnisse gewinnen können, die dann mehr und mehr dieser Erkrankungen behandelbar machen. Zwischenziel ist zumindest, dass wir versuchen wollen, möglichst viele dieser Erkrankungen zu einer chronischen überlebbaren Form zu machen. Ob wir von Heilungen sprechen können, hoffen wir natürlich auch, aber das wird in vielen Bereichen doch etwas länger dauern.

  1. Simone Pet.

    Danke für das spannende Interview. Ich finde auch, dass für die Forschung und den Fortschritt mit Patientendaten gearbeitet werden muss. Aber wo und wie kann eine sinnvolle Grenze für die kommerziellen Interessen einiger Parteien gezogen werden? Das ist ja die Angst vieler Menschen, wenn Gesundheitsdaten aus dem Praxis- und Klinikalltag an zentralen Stellen (Krankenkassen) lagern, dass dann einige mit Daten, die den Patienten gehören ordentliche Profite machen, die Patienten später indirekt auch noch für zahlen müssen (Krankenkassenbeitrag). Oder dürfen diese Datenbanken (reine Forschung an Instituten vs. Behandlungsdaten vom Gesundheitssystem) gar nicht getrennt werden, weil sonst die Forschung gar nicht in dem Umfang forschen kann, wie es sein müsste? Es gibt ja eine Initiative von Datenschützer Thilo Weichert und der Medizininformatiker Michael Krawczak mit einem Thesenpapier, das m.e. den Informationen von Prof. Kalle nicht widerspricht. Hier gibt es einen Artikel dazu: http://e-health-com.de/details-news/secondary-use-wider-den-deutschen-f…

    Aber wie geht es denn nun weiter? Bleibt das eine singuläre, abgeschottete Inititiative aus Heidelberg? Und wie ist der Stand von dem Thesenpapier? Können Sie dazu nicht mal aufklären oder sagen, wo es weitere Informationen dazu gibt und vorallem - wer entscheidet denn mal was?

    vor 6 Jahren
  2. Redaktion

    Liebe Frau Simone Pet., Professor von Kalle hat uns seine Antwort geschickt:
    „Unsere DataBox Initiative wird eine Multicenterstudie mit 15 Zentren sein, die nach 18 Monaten in eine Erprobungsphase mit mehreren Krankenkassen eintritt, in dem Bestreben, einen patienteneigenen Datenraum finanziert für jeden Betroffenen im Gesundheitswesen zu verankern. Die Trägerschaft soll in der Tat bei einer unabhängigen Struktur (Stiftung, Genossenschaft) liegen. Es soll und muss vom Patienten entschieden werden, ob und welche Daten für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt werden. Die Infrastruktur wird erlauben, dies beim Patienten anzufragen. Die Adressaten von Daten ihrerseits müssen sich akkreditieren und den Verwendungszweck offenlegen. Ab 1. Januar wollen wir loslegen.“

    vor 6 Jahren

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