Unsere Gesellschaft ist sensibler geworden für die Stigmatisierung einzelner Gruppen. Das beobachtet der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler Professor Dr. Matthias Hastall. Er forscht unter anderem zu Gesundheitskommunikation, Anti-Stigma- und Teilhabekommunikation.
Warum stigmatisiert der Mensch andere?
Menschen haben ein starkes Bedürfnis nach Selbstwert und Ansehen – und das sorgt auch für irrationales Verhalten. Selbstwert zu erlangen ist relativ einfach, indem man auf andere Menschen herabguckt. Der Sozialpsychologe Leon Festinger sprach hier vom „sozialen Abwärtsvergleich“. Es ist eine der einfachsten Arten, sich besser zu fühlen.
Was wird denn alles genutzt, um sich überlegen zu fühlen?
Das Geschlecht, die Herkunft, der Bildungsgrad, der Gesundheitszustand, das sind bekanntere Merkmale. Aber im Grunde lässt sich alles als Basis für einen sozialen Abwärtsvergleich nutzen: Ein Mensch, der 20 Zigaretten am Tag raucht, schaut dann auf jemanden herab, der 40 am Tag raucht.
Ab wann spricht man denn von Stigmatisierung?
Diese Frage wird gerade stark diskutiert, vor allem auch in den sozialen Medien. Manche halten allein schon eine reine Kategorisierung für stigmatisierend: Wenn Sie mich „Mann“ nennen, wäre das demnach sexistisch. Das halte ich persönlich für übertrieben, aber es zeigt gut, wie sensibel die Gesellschaft inzwischen teilweise für dieses Thema geworden ist.
Wie definiert die Wissenschaft die Stigmatisierung?
Die Wissenschaft spricht von Stigma, wenn mehrere Prozesse zusammenkommen: Etikettierung, Stereotypisierung, Trennung in „uns“ versus „die Anderen“, Statusverlust und Diskriminierung im Rahmen eines Machtgefälles. Es ist allerdings wichtig, zu unterscheiden zwischen stigmatisierenden Gedanken und stigmatisierendem Verhalten. Es ist zumindest möglich, dass man in seinem Kopf das ein oder andere Vorurteil hegt und trotzdem in seiner Arbeit neutral, reflektiert oder besonders vorsichtig vorgeht. Erst wenn man durch das eigene Verhalten andere Personen tatsächlich benachteiligt, liegt eine Diskriminierung vor.
Sie forschen zu Anti-Stigmatisierungs-Kommunikation, was genau machen Sie?
Wir wollen erstmal grundlegend verstehen, wie Menschen auf bestimmte Informationen reagieren: Wir geben unseren Studienteilnehmenden beispielsweise Zeitungsartikel, in denen eine Person beschrieben wird und variieren dann wenige Merkmale dieser Person: aus einem „Patienten“ wird beispielsweise eine „Patientin“ oder wir ergänzen die Information, dass die geschilderte Person homosexuell ist, oder dass sie aus Syrien kommt. Wir wollen verstehen, inwiefern solche Details die Einstellung der Lesenden zur gesamten Gruppe ändern.
Und?
Tatsächlich kann solch eine Schilderung eines Einzelfalls die Einstellung gegenüber der kompletten Gruppe verändern: Wir lesen eine neutrale Information über zum Beispiel eine einzige Person mit einer bestimmten Behinderung und beurteilen im Anschluss sämtliche Menschen mit Behinderung tendenziell negativer. Solche „Fallbeispiel“-Effekte konnten wir wiederholt nachweisen.
Genauso konnten unsere Studien zeigen, dass psychische Erkrankungen im Vergleich mit körperlichen Erkrankungen extrem stigmatisiert sind – etwas, das bereits andere Untersuchungen ans Licht gebracht hatten. Darstellungen von Menschen mit Schizophrenie oder Depression bewirken eine höhere soziale Distanz als Menschen mit einer Querschnittslähmung oder Kleinwuchs. Bei vielen Fragen stehen wir aber noch ganz am Anfang.
Was lässt sich gegen Stigmatisierung und Diskriminierung tun?
Drei Dinge funktionieren in gewissem Maße: Proteste, Aufklärung und Kontakt. Vor allem Letzteres – wenn man Personen aus stigmatisierten Gruppen und Gruppen, die stigmatisieren, zusammenbringt – hat einen positiven Effekt. Wichtig sind dabei aber Augenhöhe, institutionelle Unterstützung und ein gemeinsames Ziel. Solche Begegnungen funktionieren sogar, wenn man sich die andere Gruppe nur vorstellt – das zeigen zumindest Studien zu „imagined contacts“. Innerhalb dieser drei Zugänge lassen sich weitere Strategien differenzieren, etwa das Empowerment Betroffener, eine höhere sprachliche Sensibilität bzw. die Nichtverwendung stigmatisierender Bezeichnungen, strategisches „Framing“ der jeweiligen Thematik oder bestimmte Storytelling-Techniken. Was erfolgversprechend ist, hängst immer stark vom Thema und den Zielgruppen ab.
Wie kann man Entstigmatisierung schaffen dort, wo Menschen nicht für das Thema sensibel und engagiert sind?
„Nicht engagiert“ wird es langsam immer weniger geben. Durch die sozialen Medien können Menschen heute ihre Erfahrungen direkt und ungefiltert berichten. Wer damit gut umgehen kann, ist bereits in einer gewissen Machtposition. Ich sage mal: Die Praktikantin, die sich auf Twitter auskennt, hat bei solchen Fragen vermutlich mehr Macht als ihre Vorgesetzten. Allein das wird dafür sorgen, dass stigmatisierendes Verhalten stärker thematisiert und gesellschaftlich debattiert wird.
Was lässt sich im Gesundheitsbereich gegen Stigmatisierung tun?
Selbsthilfeverbände machen immer stärker auf die Thematik aufmerksam: Menschen, die an Adipositas erkrankt sind, wünschen sich beispielsweise, neutral untersucht zu werden, anstatt dass „immer alles“ auf ihr Übergewicht geschoben wird. Die Betroffenen stellen zum Teil in Frage, ob sie sich das zigste Mal auf ihr Merkmal ansprechen lassen müssen oder nicht. Ärzt:innen argumentieren, dass es krankheitsrelevant sein kann, also angesprochen werden muss. Wir kommen jetzt langsam in eine Phase, in der wir solche Themen gesellschaftlich und innerhalb der Professionen ausdiskutieren. Die Bandbreite zwischen holzschnittartigem Ansprechen und übersensiblen Verhalten – wir trauen uns gar nicht mehr, etwas anzusprechen – ist hoch. Ich rate, hier zuerst auf die Stimmen der Betroffenen zu hören, oft kann man dadurch viel lernen. Um einen dauerhaften Kompromiss zu erreichen, sollten alle Seiten zu Wort kommen – und jede Seite sollte ein gewisses Maß an Offenheit, Lernbereitschaft, Wertschätzung und Nachsicht mitbringen.
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