Jährlich erkranken 16.500 junge Menschen zwischen 18 und 39 Jahren neu an Krebs. Doch ihren Überlebenskampf, den 80 Prozent von ihnen gewinnen, nimmt man kaum wahr: Krebs gilt häufig als Angelegenheit älterer Menschen – und das System ist auf die Bedürfnisse junger Erwachsener mit Krebs nicht vorbereitet. Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen. Weitere Stimmen stammen aus dem Umfeld der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs, die wir mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen.
Krebsfrüherkennung: Der blinde Fleck
Wird ein Tumor rechtzeitig erkannt, sichert dies Lebenschancen. Doch die Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen, werden nicht ausgeschöpft:
„Vorsorge und Früherkennung müssen sich ändern. Wir brauchen ein neues Bewusstsein für die Symptome von jungen Krebserkrankten, damit diese nicht erst erkannt werden, wenn sie metastasiert sind. Was zum Beispiel helfen würde: Beim Gesundheitscheck durch den Hausarzt auch Tumormarker in die Blutanalyse einbauen.“
Karen Abel, Lungenkrebsaktivistin und Podcasterin „Let's talk about cancer“
„Vor der Diagnose werden wir junge Leute von Ärzten zu selten ernst genommen. Die Tumorerkrankung wird dann als Müdigkeit abgetan.“
Doreen Fiedler, Mitglied einer Treffpunktgruppe der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs
„Beim Lungenkrebs gehören sowohl Diagnostik als auch Therapieempfehlung in die Hände von erfahrenen Spezialisten. Gerade bei jungen Patienten liegen sehr häufig gut behandelbare Treibermutationen vor. Aber noch immer verlieren Patienten kostbare Lebensjahre und Lebensqualität, weil keine adäquate Biomarkertestung stattfindet bzw. falsche Therapien eingesetzt werden.“
Nicoline Ehrhardt, Patientennetzwerk ALKpositiv Deutschland
Therapie mit Blick auf die Zukunft
Eine Therapie dauert oftmals mindestens ein halbes Jahr. Alle vier Wochen müssen Krankschreibungen eingereicht werden, neben vielen anderen bürokratischen Anträgen. Es bräuchte dafür eine Begleitung von Amts wegen, damit die Betroffenen sich nicht selbst durchkämpfen müssen. Und mehr Achtsamkeit:
„Ich wurde aufgrund der Therapie meiner Leukämieerkrankung unfruchtbar. Meine Schwester bot an, für mich ein Kind auszutragen. Aber in Deutschland sind Eizellspenden und Leihmutterschaften verboten. Dieses Verbot sollte abgeschafft werden.“
Anonym
„An einem Donnerstag erhielt ich meine Diagnose, am Montag sollte gleich die Therapie beginnen. Der Arzt meinte, um einer Unfruchtbarkeit vorzuschützen, könne er übers Wochenende Eierstockgewebe entnehmen – aber das wird von der Kasse nicht übernommen. Ich sollte also binnen zwei Tagen mehrere tausend Euro organisieren. Eine solche Leistung sollte von den Kassen bezahlt werden.“
Sarah, Mitglied einer Treffpunktgruppe der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs
Krebstherapie mit Blick auf die Zukunft:
Wer in jungen Jahren an Krebs erkrankt, hat eine ganz andere Lebensperspektive als ein/e ältere/r Patient:in: Man möchte vielleicht noch eine Familie gründen, braucht Unterstützung auf dem Weg zurück in den Beruf und mehr. Das muss von der Diagnostik über Therapie bis zur Reha mitberücksichtigt werden.
„Mit Beratung und Gespräch verdienen die Onkologen kein Geld. Dabei ist diese Begleitung für Patienten enorm wichtig“.
Karen Abel, Lungenkrebsaktivistin und Podcasterin „Let's talk about cancer“
„Lungenkrebs wird überwiegend in fortgeschrittenen Stadien diagnostiziert, eine Heilung ist dann nicht mehr möglich. Gerade junge Patienten wollen aktiv in Therapieentscheidungen eingebunden werden, um die ihnen verbleibende Zeit möglichst lange und mit guter Lebensqualität zu nutzen. Dazu gehört auch, dass das Nebenwirkungsmanagement und gegebenenfalls das Einholen einer Zweitmeinung mehr in den Fokus rücken sollte.“
Nicoline Ehrhardt, Patientennetzwerk ALKpositiv Deutschland
„Es braucht einen vollständigeren Blick auf die Therapie: Und zwar mit Blick auf Ernährung, Sport und Achtsamkeit. Wir wollen keine Alternativtherapie abseits der Schulmedizin, aber alles, was hilft; vor allem zur Linderung von Nebenwirkungen.“
Doreen Fiedler, Mitglied einer Treffpunktgruppe der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs
Alltag mit Krebs: Stigmatisierung
Krebserkrankte vermissen ein heilendes Umfeld. Stattdessen fühlen sie sich gebrandmarkt: Beispielsweise, indem sie beim Abschluss von Versicherungen und Kreditverträgen diskriminiert werden – oft erhalten sie diese gar nicht. Besser wäre ein Recht auf Vergessen: dass eine Krankheit irgendwann aus den Akten getilgt wird.
„Ich bewarb mich für den Polizeidienst – sieben Jahre nach meinem Hodenkrebs. Das Risiko einer erneuten Krebserkrankung ist genauso groß wie bei jedem anderen Menschen auch: sehr gering. Dennoch wurde ich nicht genommen. Es sei nicht einzuschätzen, hieß es, wann und wie ich wieder an Krebs erkranke.“
Anonym
„Die Gesellschaft sollte offener mit Krebs umgehen. Als ich mal in einem Workshop bei der Vorstellungsrunde davon erzählte, wurde ich anschließend gemieden; das Thema Krebs löst bei Nichtbetroffenen Angst und Unsicherheit aus.
Karen Abel, Lungenkrebsaktivistin und Podcasterin „Let's talk about cancer“
„Junge Lungenkrebserkrankte, die in der Mehrzahl Nie- bzw. Nichtraucher sind, müssen sich neben der Schwere ihrer Erkrankung auch der Stigmatisierung, der ihre Erkrankung in der Öffentlichkeit unterliegt, stellen. Dies führt dazu, dass viele Patienten ihre Erkrankung verschweigen. Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass jeder, der eine Lunge hat, auch an Lungenkrebs erkranken kann. Völlig unabhängig davon, ob er geraucht hat oder nicht. Wir müssen dringend davon weg, dass Lungenkrebs der „Selbst-Schuld-Krebs“ ist.“
Nicoline Ehrhardt, Patientennetzwerk ALKpositiv Deutschland
„Meine damalige Mitbewohnerin sagte mir kurz nach meiner Diagnose, dass sie damit nicht umgehen kann und es nicht aushält mit jemandem zusammen zu wohnen dem es so schlecht geht. Sie bat mich daher nachdrücklich die WG zu verlassen. Mitten in der Therapie blieb mir daher nichts anderes übrig als wieder zu meinen Eltern zurückzuziehen.“
Katharina, Mitglied einer Treffpunktgruppe der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs
„Wenn die Haare wieder wachsen, sagen viele: Ah, bist ja wieder gesund. Es ist aber nicht vorbei. Dass wir unter Anspannung stehen, etwa vor Nachsorgeuntersuchungen, sieht niemand. Wir wünschen uns mehr achtsames Nachfragen.“
Doreen Fiedler, Mitglied einer Treffpunktgruppe der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs
Leben mit Krebs: Finanzielle Folgen
Eine Krebserkrankung hat nicht nur Konsequenzen für die Erwerbsarbeit, sondern zieht auch andere Kosten nach sich. Betroffene wünschen sich mehr Unterstützung und Flexibilität: „Ich war in der Ausbildung und verdiente daher noch nicht gut. Das Krankengeld betrug nur 70 Prozent meines Gehalts. Damit konnte ich mein Leben kaum bestreiten. Wir sollten von Anfang an von Zuzahlungen wie bei Medikamenten oder Transporten befreit werden.“
Bernd, Mitglied einer Treffpunktgruppe der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs
„Meine Wohnung war zu groß, um Wohngeld zu beantragen. Ich solle doch umziehen, sagte man mir – dabei metastasierte ich gerade und war in Strahlentherapie. Eine Flexibilität beim Wohngeld hätte geholfen.“
Marvin, Mitglied einer Treffpunktgruppe der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs
„Ich bin Studentin und erhielt meine Diagnose kurz vorm Semesterende – also vor den Prüfungen. Die konnte ich wegen der Therapie nicht mehr ablegen und erbat Aufschub. Man riet mir zu einem Urlaubssemester. Doch dann kam das BAföG-Amt und forderte Geld zurück. Es bräuchte eine Vereinfachung der Hilfe.“
Johanna, Mitglied einer Treffpunktgruppe der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs
Reha & das Leben danach
Es gibt kaum Reha-Modelle für junge Erwachsene. Junge Krebspatient:innen sitzen im Kreis von Patient:innen über 70 und können sich kaum austauschen. Hier würden spezielle Reha-Modelle helfen. Und anderes mehr:
„Mit 30 zu erfahren, dass man unheilbar an Lungenkrebs erkrankt ist, ist eine riesige Belastung. Dieses Wissen, dass man sein altes Leben niemals zurückbekommt, lässt viele Patienten verzweifeln. Es gibt zu wenige Beratungsstellen, die einen dann bei der Suche nach angemessenen Hilfen begleiten. Auch die Möglichkeit einer psycho-onkologischen Betreuung fehlt viel zu oft.“
Nicoline Ehrhardt, Patientennetzwerk ALKpositiv Deutschland
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