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Was Gesundheitsämter für die Zukunft brauchen

Sie arbeiten für unsere Gesundheit und standen mit der Corona-Pandemie im Rampenlicht: Die Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), sprich der Gesundheitsämter. Wie bereiten sie sich auf möglich weitere Krisen vor und wie geht es ihnen nach bald drei Jahren Pandemie? Ein Gespräch mit Dr. Kristina Böhm, stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) und Leiterin des Gesundheitsamtes Potsdam.

Dr. Böhm Gesundheitsämter

Dr. Kristina Böhm ist stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbands Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) und Landesvorsitzende des ÖGD Brandenburg-Berlin. Sie leitet als Fachärztin für Allgemeinmedizin und öffentliches Gesundheitswesen das Gesundheitsamt Potsdam. Zuvor war sie 21 Jahre lang Sanitätsoffizierin bei der Bundeswehr und als Amtsärztin für die Überwachung der Region Ost zuständig.

Auf einen Blick

 

  • Der öffentliche Gesundheitsdienst leistet Bevölkerungsschutz im Hintergrund.
  • Um Krisen zu bewältigen, braucht es Stabsarbeit wie beim Katastrophenschutz. Die Strukturen müssen jetzt aufgebaut und Risiko-Lagen geübt werden.
  • Damit die Politik in einer Krise die richtigen Entscheidungen treffen kann, braucht es die Datenautobahn nach oben und ein Verständnis darüber, welche Zahlen aussagekräftig sind.
  • Das Pandemie-Management brachte Gesundheitsschäden mit sich, besonders für Kinder und Jugendliche.
  • Der Klimawandel bringt viele weitere Aufgaben für die Gesundheitsämter.

Wie sehr hat die Corona-Pandemie die Arbeit der Gesundheitsämter verändert?

Dr. Böhm: Die Corona-Pandemie war wie ein Katalysator für den Öffentlichen Gesundheitsdienst Deutschland (ÖGD). Im Kern ist verstanden worden, dass der ÖGD nicht verhandelbar ist, dass vieles aber besser organisiert werden muss. Die Pandemie hat aber auch dafür gesorgt, dass wir erstmals so richtig in der Öffentlichkeit wahrgenommen worden sind.

Wir arbeiten ja für den Bevölkerungsschutz: Während die Individualmedizin persönliche Beziehungen zu Menschen knüpft, sind wir in der Regel im Hintergrund. Wenn man von uns nichts hört, ist alles in Ordnung.

 

Was genau macht der Öffentliche Gesundheitsdienst für die Bevölkerung

Es geht um Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung in allen Lebensphasen und darüber hinaus: Das beginnt mit der Schwangerschaftskonfliktberatung, geht über Schuluntersuchungen, Infektionsschutz, Trinkwasserschutz bis hin zur zweiten Leichenschau vor der Kremierung.

Stichwort „besser organisieren“, was schlagen Sie für die Zukunft der Gesundheitsämter vor?

Der ÖGD ist als Ganzes schwer steuerbar. Wir haben 16 Länder und dazu noch internen Föderalismus: Ein kommunales Gesundheitsamt funktioniert anders als ein städtisches Gesundheitsamt oder das Amt in einer großflächigen Kommune. Es gibt also nicht „das“ Gesundheitsamt.

Auch kann man nicht jede Gesundheitskrise auf der gleichen Ebene lösen. Bei einem Masernausbruch werden Sie vom Bund nichts hören. Warum? Weil Sie nur 72 Stunden haben, um zu handeln. Bei Tuberkulose indes geben Blutuntersuchungen erst acht Wochen nach dem Kontakt mit dem Erreger aussagekräftige Befunde. Wir brauchen jetzt also auf allen Ebenen Taten, um auf die nächste Krise vorbereitet zu sein.

Was genau bist nötig für einen zukunftsfähigen Öffentlichen Gesundheitsdienst?

Es ist die Natur einer Krise, dass ad hoc ein Ereignis da ist, das einen anderen Modus braucht. In Krisensituationen muss man bestimmte Regeln aushebeln und sich neu aufstellen, um schnell zu entscheiden. Es braucht kurzfristig zusätzliches Personal zum Tagesgeschäft-Personal dazu. Menschen müssen ihre Rollen wechseln.

Wir brauchen also Strukturen, die auf Knopfdruck im Krisenmodus arbeiten können. Und das alles müssen wir üben, wie es der Katastrophenschutz, die Feuerwehr oder das Technischen Hilfswerk immer schon machen.

Werden jetzt überall solche Krisenstrukturen im Gesundheitswesen aufgebaut? Und wie?

Das bleibt eine kommunale Entscheidung. Hier in Potsdam ging die Initiative dafür von der Stadtspitze aus. Wir wollen wissen: Welche Expertise haben wir bereits in der Stadt? Welche Berufe brauchen wir für welche Krise? Wo könnten diese Fachleute herkommen? Und das werden wir dann üben.

Um „lagebezogen“ zu arbeiten, setzt die Stabsarbeit Strukturen mit klar verteilten Aufgaben. Ein Beispiel: Der erste Leitende Notarzt, der bei einem Großschadensereignis eintrifft, kümmert sich nicht um Verletzte, sondern schätzt das Geschehen ein, schaut, wie viele Rettungskräfte es wo braucht und ordert Rettungsmittel. So funktioniert Krisenarbeit im Kern.

Welche Schwierigkeiten sehen Sie in der Vorbereitung auf weitere gesundheitliche Krisen?

Sie brauchen in einer Krise medizinische Fachkräfte, Psycholog:innen, Psychiater:innen, Gesundheitsaufseher:innen, Ingenieur:innen und weitere hochspezialisierte Berufsgruppen, die eine entsprechend tarifvertragliche Bezahlung haben.

Auch da leiden wir unter Fachkräftemängel und haben eine Schwierigkeit durch den Föderalismus: In Potsdam gilt der TVÖD, in Berlin, das direkt vor den Toren unserer Stadt liegt, gilt der Tarifvertrag für die Länder (TVL). Die Fachkräfte werden also jeweils dorthin abwandern, wo die Konditionen besser sind.

Was brauchen Gesundheitsämter noch für gutes Krisenmanagement?

Wir brauchen Verlässlichkeit und die Ausstattung – und das betrifft im Fall der Digitalisierung nicht nur den ÖGD, sondern ganz Deutschland. Wenn wir wollen, dass Informationen schnell von der Arbeitsebene zu den politischen Entscheidern durchgehen, dann brauchen wir eine Datenautobahn nach oben:

Heute wird ein reines Laborergebnis zu einem Infektionserreger zunächst ans lokale Gesundheitsamt geschickt, von dort zum Landesgesundheitsamt, und von dort zum RKI. Und das mit verschiedenen Softwares und Brüchen an den Schnittstellen. Wenn Daten nur verzögert prozessiert werden und die Datenqualität leidet, dann leiden auch die Entscheidungen.

Und was meinen Sie mit Verlässlichkeit?

Wir müssen definieren: Welche Zahlen brauchen wir wofür? Mit welchen Zahlen kann die Politik arbeiten? Das darf nicht überfrachtet werden. Die heutigen Meldebögen für SARS-CoV2-Infektionen sind zu lang, da gehen die Ärzt:innen in die Knie.

Auch fiel uns der Datenschutz auf die Füße. Es ist unstrittig, dass Daten geschützt werden müssen. Aber unser Potsdamer Bescheid war sechs Seiten lang, um rechtssicher zu sein. Allein schon wegen des Fachkräftemangels müssen wir Prozesse schlanker und effizienter gestalten. Unsere Mitarbeiter:innen sind sehr bereit, sich den Herausforderungen zu stellen, aber sie brauchen auch Flankierung.

Gesundheitsdaten sind in Pandemien wichtig, aber sensibel

Auf der Arbeitsebene erweisen sich viele Dinge als unpraktisch. Wir haben bei SARS-CoV2 sehr in die Tiefe gefragt. Stellen Sie sich das jetzt bei den Affenpocken vor. Unsere Ärzt:innen stellen detaillierte Fragen zum Sexualverhalten. Das wird schnell zum Tanz auf dem Vulkan. Sie können nicht erwarten, dass irgendjemand seine Daten im digitalen Freitext ablegt. Auch Impfungen ist ein heikles Thema. Wir müssen also darüber reden, welche Daten wir wie abfragen und auf welchen Ebenen es wie Sinn macht.

Auch hatten verschiedene Ämter während der Krise eigene digitale Strukturen entwickelt, dann kam SORMAS von der Bundesregierung. Das hat die Lage nicht einfacher gemacht. Die Datenmigration, das Einarbeiten, das alles hat viel Zeit gefressen. Warum in der Krise etwas gut Laufendes abschalten, das vor Ort funktioniert? Wir bedienen selektive Lagen, unser Programm hat das abgebildet, was wir vor Ort brauchten.

Wie geht es Ärzt:innen des ÖGDs nach fast drei Jahren Krisenmodus?

Sie sind erschöpft und müssen erstmal wieder auftanken. Wir als ÖGD wollen uns aber auch wieder unseren originären Aufgaben zuwenden, wir haben so viele große Aufgaben über den Infektionsschutz hinaus.

Vor welchen Aufgaben steht der ÖGD aktuell noch?

Die Gewichtszunahme von Kindern ist ein großes Thema, auch die psychischen und entwicklungspsychologischen Folgen der Lockdowns bei Kindern. Wir sehen eine schlechtere Zahngesundheit, da die zahnärztlichen Schuleingangsuntersuchungen ausgefallen waren.

Dass die Kinder und Jugendlichen während der Pandemie nicht sichtbar waren, war für viele eine ganz enorme Härte. Sozialer Rückzug ist in dieser Altersphase folgenreich, wenn sie keine Schulausflüge, keine Abschlussfahrt, keinen Abiball mehr erleben. Besonders schlimm war es für sozialpsychiatrisch betreute Kinder, die von ihren Kontaktpersonen abhängen.

Die große Aufgabe des ÖGD: Die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels

Das sehr große Thema ist aber der Klimawandel: Wir bekommen neue Erreger durch tropische Mücken, die nach Europa kommen, und wir brauchen Antworten auf das Thema Hitze. Städte werden Trinkwasserbrunnen brauchen – wie in südeuropäischen Ländern, nur dass wir hierzulande das Wasser nicht so stark chlorieren. Unser Sicherheitskonzept beruht darauf, dass das Wasser fließt und deshalb nicht verkeimt. Wir werden uns immer mehr mit den Gesundheitsfolgen durch den Klimawandel beschäftigen müssen.

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