Wie erlebt der Landarzt aus Rheinland-Pfalz die tägliche Versorgung kurz vor dem dritten Pandemie-Herbst? Hausarzt Dr. Michael Gurr aus Eisenberg in Rheinland-Pfalz über hohe Corona-Ansteckungszahlen im Sommer, eine angespannte Personal-Situation, hohen bürokratischen Aufwand und seine Gedanken für ein Gesundheitssystem der Zukunft.
Wie würden Sie die aktuelle Corona-Situation in Ihrer Praxis beschrieben und womit rechnen Sie im Herbst und Winter?
Gerade heute ist wieder ein ärztlicher Kollege coronabedingt ausgefallen und wir leisten uns eine weitere Vertretung. Zurzeit (Anfang September) kommen teilweise über 100 Patienten am Tag, was für das Sommerquartal eine ungewöhnlich hohe Zahl ist. Obwohl das Wetter in diesem Sommer durchgängig gut war, hatten wir hohe Patientenzahlen und auch einige meiner Mitarbeiterinnen haben sich angesteckt.
Mit Sars-CoV2?
Wir sahen in diesem Sommer so viele „Erkältungen“ wie noch nie – und Erwachsene, die „erkältet“ waren, hatten meist Corona. Bei Kindern waren es auch andere Infekte. Wir haben seit Beginn der Pandemie ein Infektzimmer eingerichtet (ehemaliges Wartezimmer), wo wir die Patient:innen abhören können oder Krankschreibungen ausstellen. Zusätzlich gibt es bei uns eine sog. Kurzkontaktzone zur Klärung kleinerer Anliegen.
Wie sehr hat Ihnen Ihr bereits bestehendes digitales Sprechzimmer geholfen?
Unser zeitversetzter schriftlicher Chat hat sich bewährt. Ich habe im Schnitt 15 bis 20 Anfragen zu Corona pro Tag beantwortet und kleinere Impfberatungen darüber gemacht. Die Patienten schreiben ihre Anfrage im geschützten Raum und ich beantworte sie, sobald ich Zeit habe.
Wenn ich jemanden sehen muss, bestelle ich ihn oder sie ein. Großprojekte wie die Telematik-Infrastruktur sollten sich an solchen kleinen, durchdachten, praxisbezogenen digitalen Lösungen orientieren. Man will immer den großen Wurf und versagt dann doch im Detail. Solche digitalen Lösungen müssen einfach und niedrigschwellig sein und trotzdem Benefit bringen, und zwar für beide User.
Wie halten Sie Ihr Personal motiviert? Im stationären Bereich haben viele gekündigt.
Wir haben Corona-Boni bezahlt und achten darauf, dass wir das Personal auch schonen. Ich habe versucht, dass wir trotz Krankenstand immer gut besetzt sind, um meine Kolleg:innen nicht auszulaugen. Als Hausarztpraxis mit zehn MFAs sind wir ein vergleichsweise kleines Schiff, das leichter zu steuern ist als große.
Ist das Gesundheitssystem auf einen weiteren Pandemieherbst und -Winter vorbereitet?
Das Gesundheitswesen ist unverändert komplex mit überbordender Bürokratie. Die Impfregelungen, die Testverordnungen – all das hat sich teils in ganz kurzen Zeitabständen verändert. Kaum hatte ich ein Handout für mein Team ausgearbeitet, hat es sich schon wieder geändert. Das bindet viel zu große Kapazitäten im Praxisbetrieb und hält uns von der Versorgung ab.
Wo fiel zusätzliche Bürokratie an?
Alle Themen, die mit Corona zu tun hatten. Es gibt zig Impfziffern, zig Empfehlungen und eine Fülle an Konstellationen: Ist es Auffrischungsimpfung, eine Erst- oder Zweitimpfung? Erstmalig geimpft und einmal infiziert, wie ist es dann mit Boostern? Welcher Impfstoff kommt in Frage? Als verantwortlicher Arzt muss ich dann kontrollieren: Stimmen die Impfziffern, ist alles richtig eingetragen?
Was sind die größten Erkenntnisse aus der Pandemie bislang?
Die Lernkurve ist relativ flach. Ich verstehe zwar, dass die Rahmenbedingungen für Politiker nicht leicht sind. Aber jetzt, nach 2,5 Jahre Pandemie sollte man gewisse Dinge nicht mehr den Ländern übertragen, sondern auf Bundesebene Rahmenbedingungen schaffen, die für jeden gelten.
Wenn Inzidenzen hochgehen, wenn Intensivstationen leiden, dann muss man wieder die Maskenpflicht einführen. Ich kann jeden verstehen, der die Schnauze voll hat, ich habe es auch – aber die Probleme im ambulanten, stationären Bereich sind letztlich durch hohe Fallzahlen und krankheitsbedingte Personalausfälle bedingt.
An welchen großen Schrauben müsste man in unserem Gesundheitssystem drehen?
Ich arbeite seit 20 Jahren als Arzt, zunächst in der Klinik, dann in der eigenen Praxis. Die 1995 eingeführte Budgetierung halte ich für falsch: Indem ärztliche Leistungen nicht einzeln bezahlt werden, wird das Krankheitsrisiko der Bevölkerung auf ihre behandelnden Mediziner:innen übertragen.
Wenn ein Arzt für einen Ultraschall 15 Euro abrechnen kann, dann ist das eine nichtkostendeckende Leistung. Er oder sie muss also zehn weitere Patienten zügig behandeln, damit die Pauschale einigermaßen passt. Das ist ein ungerechtes System. Die ärztliche Ressource ist entscheidend, sie muss besser bezahlt werden.
Das Gespräch wurde im September 2022 geführt.
Bild: Shutterstock
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