Was wäre, wenn jeder fünf Löffel Zucker weniger am Tag äße? Ein Gespräch über das unsichtbare Band „Gesundheit“ und Gesundheitsbewusstsein mit der internationalen Politikberaterin und Public-Health-Professorin Prof. Dr. Ilona Kickbusch.
Wann dämmerte Ihnen, dass Gesundheit das Band ist, das uns alle zusammenhält?
Kickbusch: Schon während meines Politikstudiums in den 1970ern. Es war die Zeit, in der die ersten Gesundheitsministerien gegründet wurden und die Frauenbewegung das Thema entdeckte. Wir forderten schon damals die Demokratisierung der Gesundheit und die Beteiligung der Patienten. Wir stellten Rollen und Hierarchien in Frage. Und drängten darauf, die gesellschaftlichen Ungleichheiten im Gesundheitssystem anzugehen.
Sind die Unterschiede heute noch groß in Deutschland?
Kickbusch: Ja. Die Zahlen verhüllen das bisweilen. Da heißt es zum Beispiel: Wir haben immer weniger Raucher. Wenn man es aufdröselt, zeigt sich, dass zwar Mittelklassemänner fast gar nicht mehr rauchen, aber Rauchen zunehmend zum Erkennungsmerkmal der sozial Schwächeren wird. Public Health geht es um die kleinen Änderungen bei einem großen Teil der Gesellschaft. Wenn jeder in Deutschland jeden Tag eine halbe Stunde zu Fuß liefe, wäre das Land schlagartig gesünder. Wenn jeder Deutsche täglich beispielsweise seinen Konsum von Zucker verringern und fünf Löffel weniger zu sich nehmen würde, dann würden wir uns enorme Ausgaben bei lebensstilbedingten Erkrankungen ersparen.
Haben wir ein gesundheitsbewusstes Leben bisher falsch gedacht, zu speziell?
Kickbusch: Ein gesundes Leben wird viel individualistischer und medizinischer gesehen, als es ist. Es muss heißen: Health in all policies, Gesundheit in jedem Politikfeld!
Heißt das, dass sich beispielsweise ein Bürgermeister oder Bildungspolitiker mehr mit Gesundheit auskennen muss?
Kickbusch: Sie müssen sich mehr Gedanken über die gesundheitlichen Auswirkungen ihrer Politik machen. In Kopenhagen zum Beispiel gab es eine Änderung in der Stadtplanungs- und Verkehrspolitik: Autos raus und Fahrräder rein. An gesundheitsfördernde Maßnahmen dachte man nicht vorrangig. Und ist nun erfreut über gesündere Bürger.
Und glücklicher sind die Dänen ja auch...
Kickbusch:...das kommt hinzu. In Kopenhagen hat man die Fahrradwege breit gebaut, dass man nebeneinander fahren und miteinander reden kann. Es geht also um sehr bestimmende Dinge, um ein gesundes Leben zu führen. Umso trauriger ist, dass sie nicht spektakulär sind. Eine tolle Herz-OP findet den Weg ebenso ins Boulevardblatt wie eine Gen-Entdeckung, aber dass ein bisschen besserer Umgang miteinander zu viel mehr Gesundheit führt, das lesen Sie dort nicht.
Schrauben am Getriebe ist nicht sexy.
Kickbusch: Public Health ist nicht sexy. Medizin dagegen ist Erotik pur, sie "rettet". Wo steht zum Beispiel, wie viele Lebensjahre mehr in Deutschland die Reform der Rauchergesetzgebung gebracht hat? Dabei ist es so viel wert, wenn die gesundheitsbewusstere Option in unsere Kultur, in unser Wir übergeht. Das ist wie Fahren mit Gurt oder das rauchfreie Restaurant.
Was soll also der Bürgermeister einer Kleinstadt aus seinem Rathaus unternehmen, um „health in all policies“ praktisch anzugehen?
Kickbusch: Er oder sie sollte sich um genug Spielplätze und Grünflächen kümmern, gesunde Ernährung an den Ganztagsschulen, aber auch Begegnungsstätten für seine Bürger – denn Einsamkeit ist heute ein großes, auch gesundheitliches Problem. Er oder sie sollte sich fragen, wie es um die Gesundheit der Pflegenden bestellt ist und wie mächtig sein eigenes Gesundheitsamt ist. Bisher nie mächtig genug.
"Wir haben es heute mit sehr viel mehr Alltagsgefahren zu tun als noch in den 1970ern."
Für manche ist Gesundheit schon fast eine Religion, muss da wirklich noch der Bürgermeister ran?
Kickbusch: Ein gesundes Leben ist zwar hier und da zu einer Ersatzreligion geworden; da werden die Leute dann krank, weil sie sich auf Grund gesundheitlicher Vorstellungen zu einseitig ernähren und zu viel bewegen. Aber: Wir haben heute mit sehr viel mehr Alltagsgefahren zu tun als noch in den 1970ern. Übergewicht ist beispielsweise ein Massenphänomen. Mein Appell an Politiker ist daher: Überlegt bei jeder Entscheidung mit, welche gesundheitlichen Folgen sie hat. Macht die gesundheitsbewusste Wahl zur einfacheren Wahl.
Wie zum Beispiel?
Kickbusch: Ich arbeite viel bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf, das Hauptgebäude dort hat keine einladenden Treppen; viele nehmen den Lift. Nun stehen vor jeder Fahrstuhltür Schilder mit der Frage: Willst du wirklich nicht die Treppe nehmen? Die Kollegen haben mir berichtet, dass sie nun öfters auf den Lift verzichten.
In den Alltag können viele gesundheitsfördernde Maßnahmen eingebettet werden. Das ist das "nudge"-Prinzip.
Health in ALL Policies: Sollten sich neben Lokalpolitikern auch Verteidigungsminister oder Handelspolitiker mit Gesundheit auskennen?
Kickbusch: In jedem Fall. Jeder Minister muss gesundheitsbewusster denken. Sie können nicht per Handelsboykott das Gesundheitssystems eines Landes ruinieren und später baut es die Not- und Entwicklungshilfe wieder auf. Oder sie erleben die Wiederkehr längst bekämpfter Infektionskrankheiten, weil Impfstoffe durch Sanktionen oder Krieg nicht mehr verfügbar sind. So etwas muss mitbedacht werden, sonst fällt diese Politik auf uns selbst zurück.
Schwebt Gesundheit letztlich über allem? Oder kann man genauso sagen: „Education in all policies“?
Kickbusch: Sicherlich – und das tun unsere Kollegen in der Bildung auch zu recht. Bildung ist eine der wichtigsten Gesundheitsdeterminanten. Deshalb ist auch die Investition in Gesundheit und -kompetenz so wichtig.
Also geht es grundsätzlich darum, weniger in Ressorts zu denken, ganzheitlicher zwischen den einzelnen Politikfeldern?
Kickbusch: Es zeigt, wie systemisch die Herausforderungen in unseren Gesellschaften sind und wie wenig die Ressortaufteilung häufig mit der Realität zu tun hat. Da könnte man sehr viel gemeinsam bewegen – die beste Gesundheitspolitik ist häufig eine gute Sozial- und Familienpolitik.
Ilona Kickbusch ist die Direktorin des „Global Health Programme“ am Graduate Institute of International and Development Studies in Genf und leitete zuvor das Global-Health-Programm der Yale Universität. Sie ist die Initiatorin der Ottawa Charta für Gesundheitsförderung und gestaltete „Health 2020“, den Rahmen für die europäische Gesundheitspolitik, maßgeblich mit.
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