Dreiviertel aller pflegebedürftigen Menschen werden von Angehörigen betreut. Im Lockdown fühlten sich viele von ihnen alleingelassen. Ein Gespräch über diese Zeit mit Kornelia Schmid, Vorstandsvorsitzende des Vereins ‚Pflegende Angehörige‘ aus Amberg.
Seit wann pflegen Sie Ihren Mann?
Ich versorge ihn seit 26 Jahren, er leidet unter Multiple Sklerose. Die Krankheit brach aus, als unser Jüngster ein halbes Jahr alt war, wir hatten gerade unser Haus ausgebaut. Inzwischen ist die Erkrankung so fortgeschritten, dass wir jeden Tag aufs Neue schauen müssen, wie wir es schaffen.
Wie haben Sie den Lockdown erlebt?
Plötzlich brach unser ganzes Netzwerk weg: die Tagespflege war geschlossen, die Nachbarschaftshilfe eingestellt, die Ergotherapie abgesagt. Selbst unsere eigenen Kinder, die uns manchmal stundenweise entlasten, konnten nicht mehr kommen. Das hieß für uns pflegende Angehörigen: keine Verschnaufpause mehr und rund um die Uhr mit dem zu pflegenden Menschen allein. Darüber ständig die Angst: „Jetzt bloß nicht krank werden.“ Denn, was wäre dann aus unseren Angehörigen geworden? Was mich damals aber am meisten schockierte, war, dass wir im öffentlichen Diskurs lange Zeit nicht vorkamen. Wir warteten auf ein Wort des Zuspruchs, eine Ermutigung aus der Politik, doch es kam nichts. Eltern im Homeoffice wurden erwähnt. Kinder, die kranke oder demente Eltern pflegen, nicht. Auch alle anderen pflegenden Angehörigen nicht. Als wären wir nicht da.
Mitte Mai hat die Bundesregierung eine Akuthilfe für pflegende Angehörige verabschiedet. Wie hilfreich war das?
Zum einen war es ein Tropfen auf den heißen Stein. Zehn Tage Pflegeunterstützungsgeld – und das nur für Berufstätige. Ja, was sind denn zehn Tage? Zum anderen half man denen, die es am wenigsten brauchen.
Inwiefern?
Das monatliche Entlastungsbudget von 125 Euro gab es nur für Pflegegrad 1. Und das galt ja auch nur für akute Pflegebedarfe, nicht Langzeitpflegende wie mich. Zum Vergleich: Meine Mutter mit Pflegegrad 1 kann noch alleine zu Hause sein. Menschen mit höheren Pflegegraden wie mein Mann nicht mehr. Für meine Mutter wurde der Bezug von Entlastungsleistungen jetzt gelockert: Wenn sie keinen Profi findet, kann bis zum 30. September 2020 auch mal ein Nachbar für sie sorgen – und dafür bezahlt werden. In den höheren Stufen gibt es das nicht. Bei uns fielen die Hilfsinstitutionen wie professionelle Kurzzeit- oder Tagespflege ersatzlos aus und damit auch die Versicherungsleistungen.
Wie haben Sie diese Zeit konkret gemeistert?
Ich habe meine Abwesenheiten zuhause auf das Kürzeste reduziert: Ich bin mit unserem Hund nur noch ums Eck gerast, hab die Einkäufe durchgezogen und blieb nicht einmal mehr für ein kurzes Gespräch mit der Nachbarin stehen. Alles ging husch-husch. Wenn ich nicht mehr konnte, habe ich meinem Mann gesagt: „Ich setze mich jetzt mal eine viertel Stunde ins Schlafzimmer.“ In unserer Facebookgruppe haben wir irgendwann eine virtuelle Eck-Kneipe gegründet, um aus unserer Isolation herauszukommen.
Welche Rückmeldungen hatten Sie aus der Gruppe?
Vielen ging es ähnlich. Dieses Gefühl, allein gelassen zu werden. Kein Zuspruch, keine Ermunterung aus Politik oder von Seiten der Krankenkassen. Welche Hilfsmöglichkeiten es denn gegeben hätte, wenn sich eine oder einer von uns das Bein bricht und in der Pflege ausfällt? Warum kommen die Kassen nicht auf uns zu? Und seien es nur ein paar Zeilen wie „Halten Sie durch“ oder „Wenn Ihnen etwas passiert, greift die Verhinderungspflege“, denn die hätte es noch gegeben. Wir sparen dem Staat so viel Geld, wieso wird unser Einsatz nicht stärker gewürdigt?
Was fordern Sie über Würdigung hinaus?
Das System ist insgesamt zu komplex. Es geht hier ums Sozialgesetzbuch V bis XI, das müsste man eigentlich studiert haben, um es zu verstehen. In der Praxis haben wir zu viele Einzel-Töpfe, zu viele bundeslandspezifische Regelungen, gleichzeitig fehlt es an transparenter Information. In unserer Facebookgruppe lese ich immer wieder: „Das habe ich nicht gewusst“. Ich selbst habe mir meinen Rücken ruiniert, weil ich nicht wusste, dass mir ein Lifter bezahlt worden wäre. Leistungen, auf die Sie Anspruch haben, müssen Sie mühsam aus der Homepage Ihrer Versicherung herauspicken. Für Prävention schickt man uns die Broschüren nach Hause. Wenn es um Pflege geht, herrscht Stille.
Also mehr mehr Einheitlichkeit und weniger Bürokratie?
Genau. Pragmatische Lösungen. Manchmal verfallen uns zustehende Hilfen einfach deshalb, weil wir keinen entsprechenden Dienst vor Ort finden. Das große Problem bei uns pflegenden Angehörigen: Wir werden derart beansprucht, körperlich, seelisch, zeitlich, dass wir für Lobbyarbeit kaum noch die Kraft haben. Ich wünsche, dass unser Erfahrungswissen im politischen Prozess viel stärker genutzt wird.

Kornelia Schmid ist Vorstandsvorsitzende des Vereins ‚Pflegende Angehörige‘. Hier geht es zur Facebook-Gruppe des Vereins.
Foto: complize / photocase.de
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