Ein gesunder Mensch hat meist viele Wünsche, ein Kranker nur einen einzigen: Gesund werden. Mit diesem Wunsch begeben sich jeden Tag Patienten in die fähigen Hände von Ärztinnen und Ärzten in aller Welt. Doch die Zeiten ändern sich. Die Digitalisierung und der kinderleichte Zugang zu medizinischen Informationen via „Dr. Google“ bieten einen optimalen Nährboden für eine neue Spezies von Patient: Der moderne Patient ist informiert und höchst anspruchsvoll. Und das kann für Ärzte eine enorme Herausforderung sein!
Vom Sucher und Finder zum Filterer und Gatekeeper
Die „alte“ Generation der Ärzte, die dem Stereotyp der Sucher und Finder angehörten, haben wir zu einem Großteil hinter uns gelassen. Aktuell befinden wir uns vielmehr in einer Generation der Filterer. Es gilt, aus einem schier endlosen Überangebot die passenden Informationen herauszufiltern. Allein die Literaturdatenbank Pubmed wächst jedes Jahr um etwa 500.000 Dokumente. Dies gilt natürlich nicht nur für den Arzt, sondern gleichermaßen für den Patienten.
Deshalb wird die zukünftige Generation der Ärzte mehr und mehr die Rolle eines „Gate-Keepers“ einnehmen, der die Informationen, die der Patient zum Gespräch oder zur Online-Videosprechstunde mitbringt, auf Qualität und Relevanz für die entsprechende Indikation hin überprüft. Dabei steigt zusätzlich die Gesundheitskompetenz der Patienten, da der Arzt nicht mehr den „Erfüllungsgehilfen“ für die Genesung darstellt, sondern einen gleichgestellten Partner im Behandlungsprozess.
Die moderne Patient Experience – oder was man von der Lufthansa lernen kann
Das heimliche Role Model
Dadurch ändern sich aber auch die Rollen: Die Zuweiserfunktion des Hausarztes beispielsweise scheint immer weniger praktikabel. Das hängt mit neuen Ansprüchen der Patienten zusammen. Die Wünsche und Erwartungen wachsen, sodass gegebenenfalls die Überweisung in Frage gestellt wird, da der Patient nicht davon ausgeht, dass der Arzt den Überblick über die Bewertungen der verschiedenen Spezialisten bei der Überweisung entsprechend berücksichtigt. Man will ja die bestmögliche Behandlung bekommen.
An dieser Stelle lohnt es sich, die Customer Experience eines Großkonzerns wie der Lufthansa anzusehen. Das Unternehmen hat frühzeitig erkannt, dass das sichere Verbringen des Passagiers von A nach B als Kerndienstleistung längst nicht mehr ausreicht, um neue Kunden zu gewinnen sowie Bestandskunden auf Dauer zufrieden zu stellen.
Der Weg des Kunden beginnt bereits mit dem Wunsch nach einer Reise. Es geht über das Buchungsportal weiter zu den passenden Rahmenbedingungen für den Abflug, dem Weg zum Flughafen, dem Aufenthalt auf dem Flughafen bis man schließlich im Flieger sitzt und die eigentliche Dienstleistung der Lufthansa in Anspruch nimmt.
Allerdings spielen eine Reihe von zusätzlichen Faktoren und Möglichkeiten bei der Customer Experience eine immense Rolle für die Kundengewinnung und -bindung. Beispielsweise das Gepäck schon zuhause abholen zu lassen, einen Lounge-Zugang auf dem Flughafen bis hin zur Begrüßung des Passagiers an Bord durch informierte Flugbegleiter, die bereits genau wissen, wer gerade einsteigt und ob es das vegetarische Gericht für diesen Passagier sein soll.
Sicherlich hätte es durchaus seinen Charme, beim nächsten Arztbesuch mit den Worten begrüßt zu werden: „Guten Tag Herr Meier, nehmen Sie Ihren Tee wieder mit etwas Milch und ein paar Nüsschen dazu?“ Nichtsdestotrotz zeigt sich eine ähnliche Entwicklung beim Weg des Patienten, der vermehrt Faktoren der Customer Experience auch bei der Arztwahl und der medizinischen Behandlung berücksichtigt.
Wie sieht also die Pre-Care Reise beim modernen Patienten aus?
Der Symptom-Check bei Dr. Google
Sobald Symptome bei einem Patienten auftreten, wird zunächst Dr. Google befragt. DocCheck, Netdoktor, Weiße Liste oder Jameda übernehmen hier die Rolle der Flugsuchmaschinen im zuvor beschrieben Suchprozess nach einem Flugticket.
Spannend ist hier, die Reise des Patienten weiterzudenken, sodass er gegebenenfalls direkt zur Homepage des Arztes (vertretend für die Airline des Vertrauens) gelangt, weil dort alle benötigten Informationen vorliegen beziehungsweise auch erwartet werden. Dass Passagiere ggf. durch Sammeln von Meilen belohnt werden, bei einer Airline zu bleiben, scheint im Arzt-Patienten-Verhältnis sicher etwas paradox. Es gibt allerdings Krankenkassen, die über diesen Ansatz ihre Versicherten zu einem gesundheitsbewussteren Verhalten motivieren möchten.
Abklärung beim Arzt: Halsentzündung oder Nasopharynxkarzinom?
Bei der Google-Suche sieht sich der Patient einer ungefilterten Menge von Informationen gegenüber. Leider reichen die medizinischen Kenntnisse oft nicht aus, um diese adäquat auf die eigenen Symptome anzuwenden. So kann aus einer harmlosen Halsentzündung ein Nasopharynxkarzinom werden und dem Arzt bleibt nichts anderes übrig, als den Patienten an die Hand zu nehmen und ihn beim Filtern als Gate-Keeper zu unterstützen.
Videosprechstunde: Für den Erstkontakt oder die Nachbehandlung das Modell der Zukunft
Sollte der Patient nicht zwangsläufig einen persönlichen Arztbesuch anstreben, ist die Online-Videosprechstunde eine weitere Möglichkeit für den medizinischen Erstkontakt. In der Schweiz hat sich gezeigt, wo die Videosprechstundenplattform eedoctors (auch Partner der ersten deutschen digitalen Krankenversicherung Ottonova) als medizinischer Erstkontakt für Patienten inklusive eRezept, eArbeitsunfähigkeitsbescheinigung, eÜberweisung und kostenloser Arzt-Patienten Chatfunktion bereits in der Versorgung implementiert ist, dass 70-80% von medizinischen Anfragen sich abschließend durch eine Online-Videosprechstunde behandeln lassen. Das weiß auch der moderne und informierte Patient. Die eigene Gesundheitskompetenz hat sich durch den Zugang zu strukturierten medizinischen Informationen so weit entwickelt, dass er selbstständig entscheiden kann, ob eine Online-Videosprechstunde ausreicht oder doch ein physischer Arztbesuch nötig ist.
Für den medizinischen Erstkontakt, aber auch als Möglichkeit zur schnellen medizinischen Abklärung im Verlauf der Patient Journey, wird sich die Online-Videosprechstunde binnen der nächsten Jahre mehr und mehr etablieren. Zumal das sog. Fernbehandlungsverbot, also dass Ärzte „[...] individuelle ärztliche Behandlung, insbesondere auch Beratung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen [...]“ dürfen, aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem kommenden Ärztetag ad acta gelegt wird – hoffentlich.
Wo bleibt der Arzt?
Schauen wir einmal auf die zwei Extreme bei der ärztlichen Zunft: Auf der einen Seite steht der alteingesessene „Halbgott in Weiß“, der dem Patienten schon auf der Türschwelle glaubt ansehen zu können, was dieser denn hat und was verschrieben werden sollte. Nach dem Polaritätsprinzip ist bekanntlich nichts ohne sein Gegenteil wahr – folglich finden wir auf der anderen Seite einen jungen Arzt, der von der zwar laienhaften aber dennoch medizinischen Kenntnis des Patienten beeinflusst wird oder diese gar fürchtet, da Ärzte sukzessive in einer Bringschuld stehen, ihre medizinische Sachkenntnis wie in einer unaufhörlichen Prüfungssituation jedem Patienten aufs Neue zu demonstrieren, da dieser kurz vorher im Internet nochmal mögliche Diagnosen und Therapieansätze nachgelesen hat. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es natürlich mannigfaltige Mischformen, die mal mehr zur einen und mal zur anderen Seite ausschlagen.
Die Journey des modernen Patienten zeigt das neue Verständnis vom Arzt: Es ist das eines Gate-Keepers, der das digitale Erkenntnisinteresse des Patienten berücksichtigt und proaktiv auf die medizinischen sowie nicht-medizinischen Faktoren der Patient Experience eingeht. Wie die Lufthansa seiner Zeit die Customer Experience des Flugerlebnisses mit einer Vielzahl von Faktoren außerhalb des Flugzeugs erweitert und optimiert hat, ist nun die „Patient Experience" an der Reihe. Das heißt auch, dass wir mit Blick auf die ärztliche Zunft aus evolutionärer Sicht an einem Scheideweg stehen. In Anlehnung an Darwins frühe Erkenntnisse aus der Evolutionsbiologie – Survival of the fittest – wird sich binnen der nächsten Jahre zeigen, welches Maß an „Digitalität“ die angenehmste „Patient Experience“ für den Patienten bringt und wie sich diese im weiteren Verlauf verändert. Wenn ich mich als Arzt vehement wehre, gegen den modernen Patienten und die Veränderungen, die die Digitalisierung für das Arzt-Patienten-Verhältnis mit sich bringt, wird das Konsequenzen haben. Das gilt aber auch für die digitalen Innovatoren der Ärzteschaft, die ihre Patienten mit modernen Technologien teilweise abschrecken oder sogar abhängen. Hier ist - wie so oft - Fingerspitzengefühl gefragt.
Moritz E. Behm ist selbstständiger Unternehmensberater, Keynote Speaker und Dozent für Innovationsmanagement, Projektmanagement und Digital Health
Fotos: Moritz Behm, privat, Bild Bühne: Getty Images, David_Ahn
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