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"Angesichts der akuten Krise muss ein Impfstoff so schnell wie möglich entwickelt werden, um die Pandemie einzudämmen."

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Kathrin Jansen ist Senior Vice President und Head  of Vaccine Research and Development bei Pfizer 

Die Welt befindet sich in einem Wettlauf um die Entwicklung von Impfstoffen gegen das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 und die von ihm verursachte Krankheit COVID-19. Wir sind entschlossen, diese Krankheit zu besiegen, die Millionen von Menschen infiziert und weltweit Tod und Leid verursacht. Angesichts der akuten Krise muss ein Impfstoff so schnell wie möglich entwickelt werden, um die Pandemie einzudämmen.

 

Mit unserem Partner BioNTech, einem deutschen Biotech-Unternehmen, entwickeln wir nicht nur einen, sondern mindestens vier verschiedene Impfstoffkandidaten gleichzeitig. Am 23. April haben wir mit der Erprobung des Impfstoffs in Deutschland begonnen. Vor Kurzem starteten wir die Tests unserer mRNA-Impfstoffkandidaten in einer US-Studie – nur sechs Wochen nach dem Start unserer COVID-19-Partnerschaft.

 

In den mehr als 25 Jahren, in denen ich Impfstoffe entwickle, habe ich noch nie erlebt, dass eine klinische Studie in dieser Geschwindigkeit gestartet wird. Normalerweise braucht es Jahre engagierter Forschung, um an diesen Punkt zu gelangen. Dieser Rekord ist ein Zeugnis für Innovation und Zusammenarbeit zwischen Forschern und Kollegen aus zwei sehr unterschiedlichen Organisationen und Kulturen.

 

Unser Ansatz basiert auf der gleichen Technologie, auf die wir bei einem weiteren Projekt mit BioNTech – einem mRNA-Impfstoff – bauen. Wir haben die Gelegenheit ergriffen und uns entschlossen, unsere Zusammenarbeit mit BioNTech auf einen Impfstoff gegen COVID-19 auszuweiten. So können wir einen Impfstoff möglicherweise schneller entwickeln als mit herkömmlichen Ansätzen.  

 

Im Gegensatz zu vielen herkömmlichen Impfstoffen – die in der Regel Monate bis Jahre der Forschung in Anspruch nehmen, weil zunächst biologische Produktionsverfahren für Zellen, Viren oder Bakterien entwickelt werden müssen – sind mRNA-Impfstoffe vollsynthetisch, gut charakterisiert und verwenden nahezu identische Verfahren zur Aufreinigung. Wenn sich die Impfstoffplattform als funktionsfähig erweist, könnten wir sie schnell an andere Krankheitserreger anpassen, indem wir den kleinen Teil des genetischen Codes von SARS-CoV-2 gegen den eines anderen Erregers austauschen.

 

Die erwarteten Vorzüge von mRNA

Bei den meisten herkömmlichen Virusimpfstoffen, die heute in der Anwendung sind, werden abgeschwächte oder abgetötete Formen des Virus oder dessen Proteinkomponenten (Antigene) verabreicht. Das Immunsystem erkennt diese fremden Virusbestandteile und reagiert mit einer vielschichtigen Abwehr: mit besonderen Immunzellen, um infizierte Körperzellen abzutöten, und spezifischen Antikörpern, um zu verhindern, dass das Virus weitere Körperzellen infiziert. Wenn eine geimpfte Person dann zukünftig mit dem Virus in Kontakt kommt, weiß das Immunsystem bereits, wie es das Virus erkennen, darauf reagieren und es bekämpfen kann, bevor die Person krank wird.

 

Die mRNA-Impfstofftechnologie hingegen erfordert keine langwierige Produktion von geschwächten oder abgetöteten Viren oder des viralen Antigens. Stattdessen wird die mRNA in den Körper injiziert, welche eine Reihe genetischer Erbinformationen für virale Antigene enthält. Im Inneren der Körperzellen leiten diese Erbinformationen die Zellmaschinerie zur Herstellung der Antigene an. Das versetzt das Immunsystem in die Lage, einen künftigen Virusangriff zu erkennen und zu bekämpfen. Außerdem können RNA-Plattformen eine stärkere Immunreaktion auslösen, als sie durch das Antigen allein verursacht werden würde. Das genetische Material RNA selbst kann vom Immunsystem als "viral" erkannt werden. Es wird ein zusätzlicher potenter Arm des Immunsystems in Gang gesetzt, die sogenannte angeborene Immunität. Diese erkennt und bekämpft die Muster von häufigen Krankheitserregern wie Viren und Bakterien und erhöht so die Wirksamkeit des Impfstoffs.

 

Klinische Studien in Pandemiegeschwindigkeit

Klinische Impfstoffstudien werden in der Regel nur mit einem Impfstoffkandidaten in drei separaten Phasen durchgeführt, von kleinen Sicherheits- und Immunogenitätsstudien bis hin zu großen Wirksamkeitsstudien, an denen in der Regel zehntausende freiwillige Probanden beteiligt sind. Es ist ein abwägender und sequentieller Prozess, der viele Jahre dauern kann.

 

Wegen der Dringlichkeit in Pandemiezeiten würden etablierte klinische Entwicklungspfade für uns zu lange dauern. Um die Spanne zwischen der präklinischen bis zur klinischen Bewertung zu verkürzen, verwenden wir einen einzigartigen Ansatz, bei dem wir mindestens vier verschiedene RNA-Impfstoffkandidaten parallel in einer kleineren Anzahl von freiwilligen Probanden testen.

 

Die laufende Phase 1/2-Studie in den USA verwendet ein neues Studiendesign, das die Entwicklungsgeschwindigkeit maximiert und gleichzeitig die Sicherheit gewährleistet. Dabei werden suboptimale Impfstoffkandidaten zugunsten des "Gewinners" im Rennen schnell eliminiert. Anstatt sequentieller Einzelstudien planen wir, die laufende Phase 1/2-Studie in Echtzeit und auf der Grundlage einer kontinuierlichen Datenerhebung anzupassen. So sollen der endgültige Impfstoffkandidat ausgewählt, Aussagen über die Sicherheit und Verträglichkeit getroffen und Daten zur funktionellen Immunogenität gesammelt werden können, um einen nahtlosen Übergang in die klinische Wirksamkeitsphase der Studie zu ermöglichen. Mit diesem Studiendesign sparen wir viele Jahre des herkömmlichen Zeitplans der Impfstoffentwicklung.

 

Frühe klinische Impfstoffstudien werden in der Regel ausschließlich bei jüngeren Probanden durchgeführt und danach bei älteren Populationen getestet. Wir ändern auch dieses Modell: Nachdem wir die Sicherheit des Dosisniveaus jedes Kandidaten bei jüngeren Probanden ermittelt haben, werden wir diese Dosis wenig später bei älteren Erwachsenen testen, so dass die notwendigen Sicherheits- und Immunogenitätsdaten für die am stärksten von COVID-19 betroffene Bevölkerung fast gleichzeitig zur Verfügung stehen, um die Wirksamkeitsphase der Studie zu beginnen.

 

Der Kampf gegen das Virus

Ein weiterer kritischer Aspekt für eine erfolgreiche Impfstrategie ist die Fähigkeit, Hunderte von Millionen Impfdosen herstellen und verteilen zu können. Auch hier haben wir den typischen Entwicklungsansatz geändert. Unter normalen Umständen sind für den Aufbau von Impfstoffproduktionskapazitäten Investitionen von vielen Hundert Millionen bis Milliarden von US-Dollar erforderlich. Diese Investitionen erfolgen erst dann, wenn sich ein Impfstoffkandidat als sicher und immunogen erwiesen hat.

 

Heute komprimieren wir diesen Prozess, der normalerweise Jahre dauert, durch enormen Vorabinvestitionen von Kapital und Ressourcen auf wenige Monate und das bevor wir klinische Beweise dafür haben, dass einer der Impfstoffkandidaten erfolgreich sein kann. BioNTech und die Produktionsteams von Pfizer arbeiten zusammen, um die Infrastruktur schnell auszubauen und um potenzielle Engpässe bei der Beschaffung der Materialien zu beseitigen, die für die Herstellung von Hunderten Millionen Impfstoffdosen in Rekordzeit benötigt werden.

 

Ich habe meine wissenschaftliche Laufbahn der Erforschung und Entwicklung von Impfstoffen gewidmet, damit gefährdete Bevölkerungsgruppen auf der ganzen Welt vor Krankheit und Tod geschützt werden können. Ich habe selbst miterlebt, wie Impfstoffe mit enormer Kraft das Leben verändern und dazu beitragen können, dass Kinder eine Chance haben, gesund aufzuwachsen.

 

Die Impfstoffforschung und -entwicklung war schon immer eine Herausforderung, aber normalerweise bleibt während der Entwicklung genügend Zeit, um wissenschaftliche Probleme zu lösen. Die gegenwärtige Krise hat unsere Welt auf den Kopf gestellt, denn Zeit ist das Einzige, was wir nicht haben. Wir alle sind hochmotiviert, um potenzielle Lösungen anzubieten, die dringend gebraucht werden, und um das, was noch vor wenigen Monaten unmöglich schien, jetzt möglich zu machen. Die Erfahrung, die ich gerade mache, hat meinen Glauben an die Kraft der Wissenschaft, der Forscher, der Fachleute im Gesundheitswesen und vieler anderer, die in der Pandemie eng zusammenarbeiten, bestärkt. Dieses Virus ist unser Gegner. Und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um ihn zu besiegen, nicht morgen, sondern heute.

 

Der Beitrag ist im Original und in Gänze auf politico erschienen. Wir teilen ihn hier in Auszügen.

 

Foto: NIH Image Library/ NIAID-RML

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