Ein besseres Gesundheitssystem mit mehr Beteiligung: Wie könnte die Digitalisierung das voranbringen? Ein Gespräch mit der Medizinethikerin Prof. Dr. Christiane Woopen.
Frau Prof. Woopen, konzentrieren wir uns heute mal auf die Chancen, nicht auf die Risiken der Digitalisierung. Das Gesundheitssystem mal tabula rasa gedacht – was ist alles möglich?
Christiane Woopen: Mit der Digitalisierung kann man den Patienten mehr Selbstbestimmung geben. Wenn ich Zugang zu meinen eigenen Patientendaten habe und über den Umgang mit ihnen entscheiden kann, dann ermöglicht das ein enormes Empowerment ...
Ist das nicht heute schon so?
Woopen: Weit gefehlt. Versuchen Sie mal an Ihre Patientenakten zu kommen. Wenn Sie als schwer oder chronisch Kranker bei sieben, acht Ärzten sind, dann Krankengymnasten und Sprachtherapeuten konsultieren plus bildgebende Verfahren beteiligt sind, dann hat man eine erkleckliche Datensammlung über Sie, die Sie nur mit großer Mühe zu Gesicht kriegen und erklärt bekommen werden. Das ist keine Freude. Es ist für den Umgang mit Krankheit aber eine große Chance, über die Daten in strukturierter und verständlicher Form selbst zu verfügen.
Welchen Gewinn haben Patienten dadurch?
Woopen: Sie verstehen, welche Erkrankung sie haben und wie sich der Verlauf gestaltet. Sie können sich aktiv in die Behandlung einbringen. Sie fühlen sich nicht ausgeliefert und können kontrollieren, ob die an der Behandlung Beteiligten mit zutreffenden Informationen arbeiten. Sie können auf Augenhöhe mit den Ärzten zusammen arbeiten, weil sie der Experte für sich selbst sind, auch wenn sie keine medizinischen Experten sind.
Wie gestaltet sich dieses Empowerment konkret?
Woopen: Ein Patient, der über seine Patientenakte verfügt, ist Herr über seine eigenen Gesundheitsdaten. Der Zugang zu Gesundheitsinformationen im Internet, vorausgesetzt es sind qualitativ gute Informationen, verschafft dem Nutzer Wissen über seine Erkrankung, über laufende Forschungsprojekte, über Unterstützungsmöglichkeiten usw. Digitale Möglichkeiten wie Apps, Telemedizin, Videosprechstunde und dergleichen ermöglichen dem Patienten eine aktive Gestaltung seiner Behandlung. Das bringt nicht zuletzt eine Konzentration auf Ressourcen und Perspektiven; der Fokus wandert von einer Krankheits- zu einer Gesundheitsorientierung. Es wird positiver.
Bringt die Digitalisierung eher die Evolution oder die Revolution des Gesundheitswesens?
Woopen: Eine friedliche Revolution wäre gut – etwa zur Überwindung des in Sektoren aufgeteilten Gesundheitssystems hin zu einer um den Patienten herum gebauten Gesundheitsversorgung. Die Digitalisierung eröffnet auch große Chancen für die Forschung: Derzeit gehen riesige Mengen an Daten aus der Alltagsversorgung für den Erkenntnisfortschritt verloren, das bedeutet unnötige Schädigung von Patienten und hohe, vermeidbare Kosten. In einem lernenden Gesundheitssystem würden Daten im Alltag strukturiert erhoben, und sie stünden für eine wissenschaftliche Auswertung zur Verfügung. Da kommt auch der Patient ins Spiel, der mit Hilfe unterschiedlicher Sensoren etwa in der Smartwatch und mit Gesundheits-Apps Daten sammeln kann, wenn er die Arztpraxis verlassen hat. Die elektronische Gesundheitsakte wird kommen, das ist nur eine Frage der Zeit. Und an deren Führung kann auch der Patient mitwirken, indem er selbst Eintragungen vornimmt.
Wie verändert sich das Verhältnis zum Arzt?
Woopen: Es kann durch die Digitalisierung besser werden. Die zunehmende Technisierung der Medizin auch unter Einbeziehung von Informations- und Entscheidungsunterstützungssystemen birgt die Chance einer Rückbesinnung auf die heilende Kraft menschlicher Nähe. Der Arzt ist da ein wichtiger Begleiter, Erklärer und Ratgeber.
Und wo liegen konkret die Chancen bei der Diagnose und Therapie?
Woopen: Nutzen wir etwa biologische, sozioökonomische und Verhaltens-Daten, führen wir sie zusammen und setzen Algorithmen zur Mustererkennung ein, können wir Hypothesen für die klinische Forschung entwickeln. Zudem können Patienten auf ihrem Smartphone eigene Diagnose- und Monitoring-Tools nutzen und selbst überprüfen, wie sich der Bluthochdruck oder der Diabetes entwickelt und ob sich eine psychische Erkrankung anbahnt. Apps können ebenso eine Therapie unterstützen.
Da wird vom Patienten aber viel erwartet.
Woopen: Deswegen ist es ja auch so wichtig, dass ihm die erforderlichen Kompetenzen vermittelt werden. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Netzwerk "PatientsLikeMe". Dort nehmen Patienten schon am Design eines Forschungsvorhabens teil – als aktive Akteure, die von vorne herein definieren, was für sie überhaupt relevante Ergebnisse sind. Sie reden bei Forschungsprotokollen und Fragebögen mit, damit wir erfahren, was für Patienten tatsächlich wichtig ist. Bislang werden in klinischen Studien oft Dinge erhoben, die gar nicht das wiedergeben, was sie tatsächlich interessiert.
Wünschen Sie sich, dass die Digitalisierung schneller vorangeht?
Woopen: In Deutschland sind wir da im Gesundheitswesen nicht gerade das Rennauto. Wir sind weit entfernt von einer elektronischen Patientenakte für alle. Es gibt keine vernetzten Strukturen, welche die verschiedenen Sektoren miteinander verbinden. Ja, wir müssen schon aufs Gaspedal drücken. Am Ende sollte ein digital unterstütztes Gesundheitswesen stehen, das nicht mehr wie bisher sektoral gegliedert ist, sondern den Patienten in den Mittelpunkt stellt.
Jammern wir zu viel über fehlenden Datenschutz, ist es tatsächlich so schlimm?
Woopen: Klar ist Datenschutz eine Herausforderung, gerade die sensiblen Gesundheitsdaten müssen in hohem Maße geschützt sein. Das aber ist regulatorisch und technisch machbar. Wenn wir nicht die Chancen der Digitalisierung verschenken möchten, dann müssen wir auch daran arbeiten, dass bei einem unautorisierten Zugriff auf Daten oder deren Missbrauch eine konsequente Aufklärung und Strafverfolgung stattfindet.
Bewirkt die Digitalisierung auch eine Schere – mit den Abgehängten auf der anderen Seite?
Woopen: Bei technischen Fortschritten erhöht sich automatisch die Gefahr, dass Menschen daran nicht teilnehmen. Aber deswegen sollte nicht der Fortschritt blockiert werden, sondern es müssen Strategien her, welche die Bürger und die Patienten mitnehmen.
Wie soll das konkret aussehen?
Woopen: Gesundheitsinformationen müssen im Internet so aufbereitet sein, dass man sie auch versteht und ihre Qualität einschätzen kann. Wir entwickeln hier bei ceres Orientierungshilfen, wie solche Infos vom Nutzer nach ihrer Qualität bewertet werden können. Wir brauchen so etwas auch für Kinder und Jugendliche. Und wenn es nützliche Anwendungen gibt, also zum Beispiel geprüfte Gesundheits-Apps, müssen wir dafür sorgen, dass es einen gerechten Zugang für alle gibt. Sie müssten von den Kassen bezahlt und in die Versorgung eingebaut werden.
Lässt sich alles herunterbrechen für Otto Normalverbraucher?
Woopen: Alles auf der Welt kann man so erklären, dass Otto Normalverbraucher es verstehen kann. Gut informierte Patienten sind ein Geschenk für den Arzt, weil er dann auf Augenhöhe mit ihnen sprechen und sich auf ihre Mitwirkung verlassen kann. Es ist eher das Problem eines teilweise schlecht aufbereiteten und teilweise unbekannten Angebots an Gesundheitsinformationen im Netz. Und beim Kommunikationsverhalten von Ärzten gibt es auch noch erhebliche Möglichkeiten der Verbesserung.
Wie würde das Gesundheitswesen durch mehr Patientenbeteiligung profitieren?
Woopen: Das System würde effizienter, denn die Menschen könnten kompetenter entscheiden, wann und wie oft sie zu welchem Arzt gehen. Den ganzen Behandlungsprozess würden sie verantwortungsvoll mitgestalten können. Die Vertreter der unterschiedlichen Gesundheitsberufe wären zufriedener, denn sie hätten mehr Zeit für ihre Patienten und leichten Zugang zu allen wichtigen Informationen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. In der Gestaltung des Gesundheitswesens könnten Patienten mehr Einflussmöglichkeiten erhalten. Die Prozesse der Gesundheitsversorgung würden sich am Patienten orientieren und die klinische Forschung würde ihre Bedürfnisse berücksichtigen.
Kurzum: Die Bundesärztekammer und das Bundesgesundheitsministerium sollten einen Runden Tisch einberufen – mit allen Akteuren, auch aus Pflege, Ergo-, Physiotherapie und eben Patienten, damit gemeinsam jenseits berufspolitischer Interessen neu gedacht wird: Wie soll unser Gesundheitssystem in 20 Jahren aussehen? Wir brauchen eine Vision.
Prof. Dr. Christiane Woopen ist Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität Köln und geschäftsführende Direktorin des „Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health“ (ceres). Unter anderem ist sie Vorsitzende des die Europäische Kommission beratenden Europäischen Ethikrates (European Group on Ethics in Science and New Technologies).
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